Rat für Ruhm und Ehre Ist Eine kleine, fEine Agentur Für Kommunikation Und Publizistik mit Büros in Düsseldorf und Berlin. Wir können Alles, ausser Fake News.

Die Kunst zu überleben

Die Kunst zu überleben

  • Autorin:
    Sepideh Honarbacht

  • Fotos: diverse

Hito Steyerl, This is the Future, 2019, Video installation, environment, Courtesy the artist, Andrew Kreps Gallery, New York and Esther Schipper, Berlin, ©VG Bild-Kunst, Bonn, 2020, Film still ©Hito Steyerl

Hito Steyerl, This is the Future, 2019, Video installation, environment, Courtesy the artist, Andrew Kreps Gallery, New York and Esther Schipper, Berlin, ©VG Bild-Kunst, Bonn, 2020, Film still ©Hito Steyerl

Wie kann es uns gelingen, in Zeiten andauernder Unordnung den Überblick zu behalten und kreativ zu arbeiten? Ein Versuch nach Hito Steyerl.

Am 2. November war ich ein letztes Mal in diesem Monat im K21 Ständehaus, der Kunstsammlung NRW, bevor die Museen wieder bis Ende des Monats schließen. Ausgerechnet die Museen. Warum nicht die Deutsche Bahn und der öffentliche Nahverkehr? Die fahren weiter, ohne sicherstellen zu können, dass die AHA-Regeln eingehalten werden. Ich finde, Kultur ist mindestens so systemrelevant wie Supermärkte, Kaufhäuser und Friseure. Sei’s drum. Ich werde es überleben. Der Titel der Ausstellung von Hito Steyerl lautet auch: „I will survive.“ Es gibt kein besseres Mantra, das man in diesen Zeiten täglich singen könnte.

Ich habe diese Ausstellung ein zweites Mal besucht, weil ich mir beim ersten Mal im vorgegebenen Zeitfenster nicht alles anschauen konnte. Und weil ich die Künstlerin und Denkerin Hito Steyerl besser verstehen will. Normalerweise zieht mich eher Schönes an. Hito Steyerls Kunst ist selten schön. Sie offenbart vielmehr die hässlichen Seiten der Gesellschaft: Krieg, Zerstörung, Überwachung, Manipulation. Vieles davon passiert aus Steyerls Sicht offenbar mit freundlicher Unterstützungen von künstlicher Intelligenz (KI).

Aus jedem der Werke von Hito Steyerl schreien mich beeindruckende analytische Fähigkeiten, konzeptionelle Schaffenskraft und ein trockener Humor an. Die Verbindungen zwischen Themen, die sie mit visuellen Elementen, Sprache, Musik und durch Inszenierung im Raum erlebbar macht, sind mehr als ungewöhnlich. Dies ist ein Versuch, Hito Steyerls Denkprozess zu verstehen. Stark vereinfacht natürlich.

Diese Boy Group kann nicht mehr aufhören zur Musik zu tanzen – in Hito Steyerls Video-Installation SocialSim, 2020 ; Ausstellungsschnappschuss ©Sepideh Honarbacht

Diese Boy Group kann nicht mehr aufhören zur Musik zu tanzen – in Hito Steyerls Video-Installation SocialSim, 2020 ; Ausstellungsschnappschuss ©Sepideh Honarbacht

Dafür lohnt sich ein Blick auf ihr jüngstes Werk SocialSim. Ich betrete einen dunklen Raum im Untergeschoss des Ständehauses in Düsseldorf. Es läuft Musik von den Bee Gees, „Stayin’ Alive“ glaube ich zu erkennen. Eine Boy Group, bestehend aus animierten Soldaten, die aussehen wie aus einem Ego-Shooter-Spiel entlaufen, und ein Polizist, der einem zu Pixeln gewordenen Traum eines/einer LGBTQI gleicht, bewegt sich im Takt der Musik. Und ich auch. Das macht gute Laune. Hinter einer Wand höre ich eine Stimme. Sie spricht von strukturellem Rassismus bei der Polizei.

Ich laufe um die Wand herum und sehe eine Projektion des Schauspielers Mark Waschke. Er gestikuliert wild auf irgendeinem begrünten Dach in Berlin. „Rassismus bei der Polizei? Gibt es nicht! Aber Struktur im Rasen“, oder so ähnlich, deklamiert er. Ich muss lachen. Setze mich und folge seiner Performance. Er hat offenbar den Auftrag, den Avatar eines Polizisten zum Leben zu erwecken, ihm Bewegungen beizubringen. Waschke hätte gern, dass er einen Rückwärtsflip vollführt. „Der Weg vom Kopf zu den Füßen geht über den Arsch“, sagt er. Es gelingt ihm irgendwann, seinem Alter Ego den Flip beizubringen. Macht er sich selbst überflüssig? 

In einer weiteren Episode erzählt uns der sprechende Kopf der Nofretete, sie sei entführt worden und jetzt in Berlin. Dabei sei ihresgleichen dort gar nicht so beliebt, sagt Nofretete. Ihr zur Seite stellt Steyerl eine hübsche junge Frau, die lächelnd behauptet, sie sei ein Flüchtling. Ich liebe die Museumsinsel und finde es wunderbar, die historischen Kunstschätze dort anzuschauen. Aber es stimmt irgendwie: Nofretete stammt aus Ägypten und ist nun auf der Museumsinsel kaserniert. Wäre es nicht besser, sie wäre in Ägypten ausgestellt? Andererseits ist sie im Neuen Museum besser geschützt. Ich denke: Offenbar sind wir eher bereit, Kunstgegenstände zu beherbergen und zu beschützen als Menschen, die vor Krieg und Hunger flüchten.

Installationsansicht K21, Hito Steyerl. I Will Survive: Hito Steyerl, SocialSim, 2020, Foto: Achim Kukulies, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, 2020, ©VG Bild-Kunst, Bonn, 2020 

Installationsansicht K21, Hito Steyerl. I Will Survive: Hito Steyerl, SocialSim, 2020, Foto: Achim Kukulies, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, 2020, ©VG Bild-Kunst, Bonn, 2020 

Eine KI soll in einer anderen Sequenz der Video-Installation lernen „SocialSim“ zu sagen. Nach mehr als 100.000 Versuchen sagt sie immer noch „Socialism“. Sie wird schließlich abgeschaltet. Kurz vor den Wahlen in den USA wäre es schön, Teilen des amerikanischen Volkes die irrationale Angst vor dem Sozialismus zu nehmen, denke ich.

Eine weitere Episode beschäftigt sich mit dem Phänomen der Tanzwut und stellt die Frage: „Woran würdest du lieber sterben? Krankheit? Mangelndes Einkommen? Hunger? Polizei? Tanzen?“. „Tanzen“, wäre meine Antwort und ich lächele im ersten Moment in mich hinein. Aber das Lachen bleibt mir im Hals stecken. Denn tatsächlich sterben jeden Tag Menschen an verschiedenen Orten unserer Welt an Hunger, Krankheit und Polizeigewalt. Sie können es sich nicht aussuchen.

Einige Ansichten des K21 in Duesseldorf werden zum Habitat der computer animierten Charaktere in einer Episode von Hito Steyerl’s SocialSim, 2020; Ausstellungsschnappschuss ©Sepideh Honarbacht

Einige Ansichten des K21 in Duesseldorf werden zum Habitat der computer animierten Charaktere in einer Episode von Hito Steyerl’s SocialSim, 2020; Ausstellungsschnappschuss ©Sepideh Honarbacht

Hito Steyerl stellt mir viele Fragen, die mich erheitern, berühren und nachdenklich machen. Wie schafft sie das? Und was kann ich für meinen eigenen Kreativprozess daraus lernen? Vielleicht das:

  1. Kritische Themen benennen

    Hito Steyerl ist jederzeit auf der Höhe gesellschaftspolitischer, philosophischer und ethischer Diskussionen über Krieg, Rassismus, Polizeigewalt, Kapitalismus, künstliche Intelligenz mit ihren Möglichkeiten und Gefahren oder den Wert von Kunst, die Zukunft von Museen.

  2. Tragödien humorvoll interpretieren

    Kein Thema ist zu ernst, um es nicht mit einem Augenzwinkern angehen zu können. Hito Steyerl glaubt an das Recht auf Satire. Warum auch nicht? Mit dem erhobenen Zeigefinger hat mich jedenfalls noch niemand überzeugt.

  3. Radikal vernetzt denken

    Steyerl verknüpft Themen und Formate zu Erzählungen, die mich überraschen. Weil ich die Verbindungen selbst nicht auf den ersten Blick gesehen habe. Ihre Herleitungen wirken zunächst unwirklich und abenteuerlich, dann leuchten sie mir ein. Ich frage mich, ob ich mein Gehirn trainieren kann, mühelos solche Haken zu schlagen.

  4. Fiktion mit Dokumentarischem mischen

    Was ist Fakt, was ist erfunden, beispielsweise in der Video-Installation und Performance „Mission Accomplished: Belanciege?“ Es ist mir nicht klar. Ich finde den Designer Demna Gvasalia und seine Arbeit für das Luxuslabel Balenciaga großartig. Aber ließ sich der georgische Expräsident Mikheil Saakashvili wirklich vorzugsweise in Balenciaga-Sneakern ablichten? Um sich als Agent des Wandels zu inszenieren? Und verwenden soziale Medien Taktiken von Cambridge Analytica, um uns mithilfe von bekannten Persönlichkeiten und Modelabeln politisch zu beeinflussen? Ich muss das recherchieren. Und finde im Netz tatsächlich zahlreiche Bilder von Saakashvili in seinen Balenciaga-Sneakern. Verrückt.

  5. Sauber recherchieren

    Die kritische Auseinandersetzung mit einem Thema setzt – selbst wenn sie satirisch daherkommt – eine umfassende Recherche voraus Hito Steyerl leistet ganze Arbeit. Jedes ihrer Werke vermittelt auf unterhaltsame Weise spannende historische, politische, technologische Einsichten. Und gibt mir Impulse, weiterzulesen und zu schauen.

  6. Mit Technologien experimentieren

    In ihren Arbeiten verwendet Hito Steyerl genau die Praktiken, die sie kritisch hinterfragt. Zum Beispiel werden die Parameter von „Dancing Mania“, einer Video-Installation, die als Teil des Exponats SocialSim gezeigt wird, während der Dauer der Ausstellung täglich aktualisiert.

    Zu den Parametern zählen etwa Morddrohungen, die über deutsche Polizei-Server verschickt werden, aus Armeebeständen abgezweigte Munition, die Soros-Schuldzuweisungskonstante oder die Ausbreitung manischer Leugnung. Sie sollen irrationale und autoritäre Tendenzen in der Gesellschaft messbar machen, mit der Menschen auf Krisen wie die aktuelle Pandemie reagieren.

  7. Multidimensional erzählen

    Geschichten faszinieren uns umso mehr, je mehr Sinne sie ansprechen. Hito Steyerl stimuliert sie (fast) alle. So sehr, dass man den Genuss portionieren muss, um sich nicht zu sehr zu berauschen. Mehr als zwei Stunden am Stück kann ich die Installationen nicht aufnehmen. Mir wird schwindelig. Allein für die Videos in der Ausstellung würde man acht Stunden benötigen.

Fest steht: Ich muss ein drittes und viertes Mal in die Ausstellung im Ständehaus gehen. Im Dezember dann. Bis dahin werde ich überleben – müssen – ohne Kunst in Museen. Dafür hätte ich in diesen unordentlichen und komplexen Zeiten wirklich gern die phantastischen Synapsen von Hito Steyerl. Das würde helfen.

 „Wir sind umgeben von groben und zunehmend abstrakten “dokumentarischen” Bildern, wackligen, dunklen und unscharfen, die kaum etwas zeigen außer ihrer eigenen Aufregung.[...] Sie evozieren eine Situation der permanenten Ausnahme und einer dauerhaften Krise, einen Zustand erhöhter Spannung und Wachsamkeit. Je näher wir der Realität zu kommen scheinen, desto unschärfer und verwackelter wird sie. Nennen wir dieses Phänomen: die Unschärferelation des modernen Dokumentarismus.“ – Hito Steyerl in ihrem Essay “Die dokumentarische Unschärferelation”, veröffentlicht in Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld

Hito Steyerl, How Not to Be Seen: A Fucking Didactic Educational .MOV File, 2013; HD video, Image CC 4.0 Hito Steyerl;  Motiv mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin, Andrew Kreps Gallery, New York und Esther Schipper, Berlin

Hito Steyerl, How Not to Be Seen: A Fucking Didactic Educational .MOV File, 2013; HD video, Image CC 4.0 Hito Steyerl;  Motiv mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin, Andrew Kreps Gallery, New York und Esther Schipper, Berlin

Die heitere Philosophin

Kritisch und humorvoll reflektiert die Künstlerin, Filmemacherin und Autorin Hito Steyerl den Einsatz von künstlicher Intelligenz und die Macht der Algorithmen. Sie studierte Dokumentarfilmregie am Japan Institute of Moving Image in Kanagawa und an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Anschließend promovierte sie im Fach Philosophie an der Akademie der Künste in Wien. Sie arbeitet in ihren Werken stark mit dokumentarischen Elementen und will uns dafür sensibilisieren, dass nicht alles, was wie Doku aussieht, auch eine objektive Wahrheit vermittelt. Den sogenannten „documentary turn“, eine Kunstform, die Dokumentarisches mit digitalen Plattformen, Simulationen, Social-Media-Visualität und Gaming-Ansätzen kombiniert, hat sie maßgeblich mitgeprägt.

Steyerl lesen

Das publizistische Werk Hito Steyerls ist ebenso beeindruckend wie ihre Kunst. So hat sie verschiedene Essays zur „documentary uncertainty“ verfasst. Während wir auf die Wiedereröffnung der Museen warten, empfehle ich: 

Duty Free Art – Kunst in Zeiten des globalen Bürgerkriegs
Hier erörtert Hito Steyerl, was eine Kunst sein könnte, die frei ist von der Pflicht zu performen, zu lehren und Werte zu schaffen.
https://www.diaphanes.net/titel/duty-free-art-5387

Die Farbe der Wahrheit – Dokumentarismen im Kunstfeld
Steyerl räumt in ihren Essays mit dem Missverständnis auf, dass dokumentarische Formen die politische und gesellschaftliche Wahrheit abbilden.
https://www.turia.at/titel/hito_s.php

E-flux journal: The Wretched of the Screen
Eine Sammlung von Essays, die sich mit der Politik von Bildern und Bildern der Politik beschäftigen. Und Hito Steyerls Blick auf Kunst und Kapitalismus offenbaren.
https://www.sternberg-press.com/product/e-flux-journal-the-wretched-of-the-screen/

I Will Survive – im Museum mit Hito Steyerl

Die Ausstellung ist ein gemeinsames Projekt der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf und des Centre Pompidou in Paris. Es gibt noch genug Zeit, sie zu sehen, vielleicht auch nächstes Jahr in Paris?

Bis 10. Januar 2021 im K21 in Düsseldorf oder
www.kunstsammlung.de
3. Februar bis 7. Juni 2021 im Centre Pompidou in Paris
www.centrepompidou.fr

Zwischenzeitlich könnt ihr euch auch über den K+ Digital Guide der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen mit Vorträgen, Videos und Talks einstimmen. Bleibt gesund und genießt die Medien!

Die Künstlerin ist abwesend

Die Künstlerin ist abwesend

Berlin bleibt sexy – und schläft nie

Berlin bleibt sexy – und schläft nie