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Lasst uns tanzen!

Lasst uns tanzen!

  • Autorin:
    Sepideh Honarbacht

  • Fotos: Ballet am Rhein, Titelmotiv: Lara Delfino and Nelson López Garlo in “A First Date, Episode 1, Private Light” by Demis Volpi | Photo ©Bernhard Weis

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Geschlossene Theater und Konzertsäle frustrieren nicht nur die Vergnügungssüchtigen. Der Gesellschaft fehlen die Orte der Begegnung. Und Menschen, die es gewohnt sind, ihrem Team auch körperlich sehr nah zu, sind plötzlich isoliert. Wie gehen Choreograf*innen und Tänzer*innen damit um? Ein Gespräch mit Demis Volpi und Simone Messmer vom Ballett am Rhein.

Schon immer hatte Musik diese Wirkung auf mich: Die Töne streichen über meine Haut wie warmer Wind, strömen durch meinen Körper, bewegen mich. Wenn ich die Melodie kenne, summe ich unwillkürlich mit. Das geht mit Klassik, Elektro, Tango, Jazz, Pop und Punk. Und es funktioniert sogar in Zeiten, in denen ich traurig bin. Sind vielleicht die nah-östlichen Gene und Riten, mit denen ich aufgewachsen bin.

Das Summen und Wippen versuche ich zu unterdrücken, wenn ich im Konzertsaal sitze. Denn tatsächlich höre und schaue ich anderen auch wahnsinnig gern beim Musizieren und Tanzen zu. In den letzten zwölf Monaten gab es allerdings wenig Gelegenheit: kein Ballett, kein Tanztheater, keine Tango, kein Rave. Bis auf ein paar sehr kostbare Momente im Sommer 2020. Es fehlt mir sehr – das Tanzen mit anderen und Zuschauen.

Wie müssen sich erst Choreograf*innen und Tänzerinnen fühlen? Wie halten sie das in dieser berührungsarmen Zeit aus? Und welche Strategien entwickeln sie, um mit der Situation umzugehen? Entstehen vielleicht sogar ungewöhnliche Stücke – nicht trotz, sondern wegen der Krise?

Ich habe mit Demis Volpi, dem Ballettdirektor und Chefchoreografen des Balletts am Rhein, gesprochen und mit Simone Messmer, einer der Tänzer*innen aus seiner neu geschmiedeten Compagnie*. Beide sind letzten August nach Düsseldorf gezogen – schon bald folgte der pandemische Ausnahmezustand. Beide sind immer noch enthusiastisch bei der Sache: Sie erleben gerade, wie eine Gruppe von Menschen zu einer Gemeinschaft zusammenwächst – und experimentieren mit kreativen Konzepten.

Für das Ballett am Rhein hat Demis Volpi verschiedene Stücke entwickelt, in denen er kreativ mit den aktuellen Beschränkungen umgegangen ist. | Szene aus “A simple piece”, getanzt vom Ensemble Ballett am Rhein | Photo ©Bettina Stöß

Für das Ballett am Rhein hat Demis Volpi verschiedene Stücke entwickelt, in denen er kreativ mit den aktuellen Beschränkungen umgegangen ist. | Szene aus “A simple piece”, getanzt vom Ensemble Ballett am Rhein | Photo ©Bettina Stöß

Sepideh Honarbacht: Sie haben mal gesagt, eine Compagnie funktioniert wie ein Uhrwerk. Viele Rädchen und Elemente müssen minutiös zusammenwirken, damit wir sehen, welche Stunde schlägt. Steht die Uhr nun still, Demis Volpi?

Demis Volpi: Nein, es fehlt nur das Zifferblatt. Das Uhrwerk läuft weiter. Wir können zwar nicht auftreten, trainieren aber immer noch täglich. Natürlich müssen wir eine körperliche Distanz wahren. Wir halten uns an die Empfehlungen der Berufsgenossenschaft VBG, um die Compagnie zu schützen. Für jeden Saal im Balletthaus ist eine maximale Zahl von Personen zugelassen, deshalb arbeiten wir in kleineren Gruppen von 10 bis 12 Personen. Es gibt mehrere Trainings am Tag, damit wir einen Abstand von drei Metern einhalten können. In Besprechungen mit mehreren Personen tragen wir Masken. Und auch die neuen Stücke entstehen mit diesen Begrenzungen. Nur diejenigen, die in einem Haushalt leben, dürfen miteinander tanzen, die anderen dürfen sich nur aus der Ferne unterhalten.

Das Ballett am Rhein wird ja immer noch neu geformt. Kann unter solchen Arbeitsbedingungen überhaupt ein Kollektiv entstehen?

Im Moment können wir keine gemeinsamen Erfolge feiern. Und das ist es ja, was verbindet. Viele Tänzer*innen sind erst im August hier in Düsseldorf angekommen. Es gibt immer noch ein paar wenige, die sich in sechs Monaten noch nie im Ballettsaal begegnet sind, was eigentlich verrückt ist. Klar, wir kämpfen täglich mit Frustrationen, auch die Dramaturg*innen müssen ständig neu konzipieren und planen. Manchmal fühlt sich das wie Sisyphosarbeit an. Aber die Kunst steht für sich und die Künstler müssen auch ihre Körperlichkeit behalten.

Demis Volpi (in die Kamera blickend) während der Proben mit  Dukin Seo. | Photo ©Daniel Senzek

Demis Volpi (in die Kamera blickend) während der Proben mit Dukin Seo. | Photo ©Daniel Senzek

Wie hat sich Ihre Trainingsroutine verändert?
Volpi: Wir haben mit der Tanzmedizinerin Dr. Larissa Arens, unseren Ballettmeister*innen und Physiotherapeut*innen ein spezielles dreiwöchiges Programm entwickelt. Das ist wichtig, weil neue oder fehlende Bewegungsabläufe sich auf den Körper auswirken. Die Tänzer dürfen im Moment zum Beispiel nicht partnern, das heißt sie dürfen die Tänzer*innen nicht heben. Bei den Männern können sich Muskelgruppen an den Schultern zurückbilden. Sie brauchen ein darauf abgestimmtes Kraft- und Ausdauertraining, um das zu verhindern. Die Frauen haben mehr Spitzenschuhtraining, damit sie die Kraft in den Füßen behalten und die Koordination nicht verlieren. Dazu kommt ein sogenanntes Progressive Ballett Training, eine Kombination aus Yoga, Gyrotonics, Pilates und Ballett, die auf die Bauch- und Beckenmuskulatur wirkt und die Stabilität im Zentrum des Körpers zu erhalten hilft.

Simone Messmer, was fehlt Ihnen am meisten?
Simone Messmer: Dass alle 45 Tänzer und Tänzerinnen morgens im großen Tanzsaal miteinander trainieren. Manchmal sehe ich jemanden aus einer anderen Gruppe an mir vorbeihuschen, den ich noch nicht persönlich getroffen habe, und denke: Ja, irgendwann werden wir miteinander tanzen. Darauf freue ich mich. Aber zumindest können wir überhaupt tanzen. In New York, wo ich bis Juli 2020 gelebt und gearbeitet habe, rechnen meine Kolleg*innen damit, dass sie frühestens ab Oktober wieder tanzen können. Es gibt keine Aufführungen, kein Training, sie sind beschäftigungslos. Außerdem fehlt mir das Publikum sehr. Mein Job ist es, Menschen, die ins Theater kommen, für zwei Stunden an einen anderen Ort zu versetzen. Sie sollen nicht auf ihr Handy schauen, nicht an unbezahlte Rechnungen denken. Ich vermisse es, das für Menschen zu tun. Sie geben mir auch Energie, wenn sie im Saal sind.

Für uns alle sind Berührungen wichtig. Chemische Prozesse laufen in unseren Körpern ab, Endorphine werden ausgeschüttet. Wir fühlen uns gut. In kaum einem Beruf fassen sich Menschen jeden Tag so viel an wie beim Tanzen. Ich stelle mir vor, dass Sie gerade alle wie auf Entzug sind. Wie schlimm ist es?
Volpi: Das ist ein schwieriger Aspekt. Bei unserem speziellen Programm gibt es zwar auch eine mentale Komponente, bei der wir versuchen, die Konzentrationsfähigkeit mit verschiedenen Techniken zu verbessern. Aber es ist schwierig, mit den Emotionen umzugehen. Ich bin jeden Tag hier im Balletthaus und ansprechbar. Wenn ich merke, dass es einem Tänzer oder einer Tänzerin nicht gut geht oder dass sich jemand verändert, suche ich das Gespräch. Die Pandemie gefährdet auch die Psyche der Menschen. Aber ich glaube, wir haben einen guten Weg gefunden, damit umzugehen. Es ist wichtig, dass wir nicht versuchen so zu tun, als müsste alles so funktionieren, wie sonst auch.

Simone Messmer in “A First Date, Episode 1, Allure” von Demis Volpi | Photo ©Bernhard Weis

Simone Messmer in “A First Date, Episode 1, Allure” von Demis Volpi | Photo ©Bernhard Weis

Messmer: Du hast als Tänzerin nicht die Möglichkeit, dich nur an deinen besten Tagen zu zeigen. Wir schwitzen an vier Tagen die Woche zusammen. Jeder, mit dem du arbeitest, sieht dich auch an deinen schlechten und schlimmsten Tagen. Wichtig ist, dass wir uns das zugestehen. Und nicht sagen: Oh, du hast einen schlechten Tag, verlass den Raum und komm morgen wieder. Wir müssen eher fragen: Wie willst du diesen Tag fortsetzen? Ich persönlich nehme auch alle meine Physiotherapie-Termine wahr und empfehle das auch den Kolleg*innen. So tue ich etwas für meine körperliche und mentale Gesundheit. Ich habe meinen Partner seit vielen Monaten nicht gesehen, vielen anderen hier geht es genauso. Das ist wirklich hart. Meine Physiotherapeutin ist die Einzige, die mich in dieser Zeit berühren durfte.

Haben Sie Tricks für sich und Ihr Team?
Volpi: Manchmal sind es die kleinen Dinge, die einen Unterschied machen. Einige der Tänzer*innen sind das erste Mal von Zuhause weg und konnten hier noch kein soziales Umfeld aufbauen. Wir haben zum Beispiel über die Weihnachtszeit gewichtelt, weil wir dachten, dass so neue Verbindungen entstehen können. Jüngere und schüchternere Tänzer*innen haben wir angesprochen und gefragt, mit wem sie die Feiertage verbringen. Jeder sollte irgendwo aufgehoben sein. Im Moment sind ohnehin alle angespannt, das spürt man auch bei den Menschen in der Stadt, die einem entgegenkommen. Dinge können sich hochschaukeln. Aber wir haben hier einen Ort, an dem wir sehen, wie es den Menschen im Alltag geht, und wir können direkt mit ihnen sprechen. Das haben viele, die aktuell im Home Office sind, nicht.

Messmer: Wirklich toll ist auch, wie die Menschen hinter der Bühne sich hier um uns kümmern. Sie fragen uns, was wir brauchen, was man besser machen könnte, und verändern dann auch Dinge. Das ist nicht selbstverständlich. Glauben Sie mir, ich habe schon an ein paar Theatern gearbeitet. Und auch die Tänzer*innen untereinander versuchen für einander da zu sein. Wir tauschen Termine fürs Training oder die Physio, wenn jemand wegen der Aufenthaltserlaubnis zum Amt muss. Ich habe das Gefühl, dass wir hier in der Compagnie alle besser geworden sind seit August letzten Jahres und dass wir auch als Gemeinschaft langsam zusammenwachsen.

Niklas Jendrics and Rashaen Arts  in “Spectrum” von Juanjo Arqués | Photo ©Bettina Stöß

Niklas Jendrics and Rashaen Arts in “Spectrum” von Juanjo Arqués | Photo ©Bettina Stöß

Tänzer*innen und Choreograph*innen sind es offenbar gewohnt, Freunde und Familie zurückzulassen, in einer neuen Stadt an einem neuen Arbeitsplatz anzufangen? Sind sie resilienter als die meisten Menschen?

Volpi: Das ist eine spannende Frage. Ja und nein. Tänzer*innen sind häufig sensible Menschen. Aber sie sind auch besonders anpassungsfähig, weil sie sich immer wieder auf neue Abläufe, neue Stücke, neue Tanzpartner*innen an neuen Orten einlassen müssen. Sie haben einen sehr klaren Tagesablauf. Fangen jeden Morgen mit ihrem Training an, in dem sie sich sehr stark auf sich fokussieren müssen. Das passiert aber im Kontext eines Kollektivs. Das heißt, auch wenn sie sich darauf konzentrieren, sich selbst zu verbessern, haben sie ein Bewusstsein für die anderen im Raum. Schließlich wollen wir als Compagnie ein einzigartiges Erlebnis für das Publikum erschaffen. Das ist eine sehr besondere Fähigkeit.

Messmer: Die Struktur hilft mir auf jeden Fall. Egal, wohin ich komme und mit wem ich tanze, sie bleibt. Ballett ist für mich wie meine Kirche. Ich muss da hin. Es ist meine Zeit, in der ich an meiner Kunstform arbeite. Der Tag fängt für mich 1,5 Stunden vor der ersten Trainingseinheit der Compagnie an. Klar, will ich mich weiterentwickeln. Ich wärme mich auf und präge mir meine Kombinationen ein, bevor ich in zusammen mit meinen Kolleg*innen am Training teilnehme. Auch aus Respekt vor den anderen. Außerdem ist der Tanz unsere gemeinsame Sprache: Sie verbindet, egal wo jeder Einzelne von uns herkommt. Ein Plié (Anm.: gebeugtes Bein) ist überall ein Plie, ein Tendu (Anm.: gestrecktes Bein) bleibt ein Tendu.

Haben Sie einen Tipp für Menschen, die vielleicht weniger Struktur in Ihrem Alltag haben und sich vor Veränderungen fürchten?
Messmer: Na ja, jede Veränderung ist beängstigend. Wir müssen verstehen, woher die Angst kommt. Wenn Tänzer*innen sich zum Beispiel einen Namen gemacht haben und eine herausgehobene Position in einer Compagnie haben, fällt es ihnen manchmal schwer, zu gehen und neu anzufangen, obwohl sie mit ihrer eigenen Entwicklung unzufrieden sind. Es gibt keine Garantie dafür, dass dein nächster Boss dich schätzt. Manche Tänzer*innen arbeiten 30 Jahre in derselben Truppe und sind da glücklich. Ich beglückwünsche sie dazu. Aber das ist nicht jedermanns Weg. Ich glaube, du musst mutig sein.

Und was ist, wenn es doch anders ist, als du dir vorgestellt hast?
Messmer: Natürlich wirst du auch enttäuscht. Aber das ist gut. Du lernst daraus. Selbstgefälligkeit ist gefährlich, besonders in der Kunst. Du musst dich immer weiterentwickeln als Tänzerin. Sonst wirst du schnell langweilig auf der Bühne. Ich war nicht glücklich, mit dem, was ich dargeboten habe. Und deshalb wollte ich mich verändern. Wichtig ist, dass du ein gutes Netzwerk hast. Das kann deine biologische oder deine gewählte Familie sein. Wenn du ihre Unterstützung hast, hilft dir das, durch die Veränderung zu gehen.

Demis, wie führen Sie dieses Team remote? Haben Sie einen bestimmten Stil oder improvisieren Sie gerade?
Volpi: Im Moment ist nichts, wie es normalerweise wäre. Es gibt das, was ich mir wünsche, und das, was dann einfach passiert. Ich führe häufig den ganzen Tag Gespräche über Zoom – irgendwann bin ich genervt. Und das spürt auch mein Gegenüber. Dann muss ich mir selbst klarmachen, dass es das Medium ist, das mich nervt, nicht der Mensch. Was wir gerade alle wieder lernen müssen, ist das Zuhören. Damit es keine ewigen Monologe gibt, ist es wichtig, den anderen zu unterbrechen. Das ist in Videokonferenzen aber manchmal schwierig und führt zu einer komischen Atmosphäre. Mir ist wichtig, dass wir einen sicheren Ort haben, an dem wir uns alle alles sagen können. Ich freue mich, wenn wir bald wieder alle in einem Raum sein können.

Simone, wie demokratisch ist die Compagnie in Ihren Augen?
Messmer: Nun, sie ist schon frei von Hierarchien. Es gibt keine Primaballerina oder Ersten Tänzer. Die Choreografen kommen in die Class und casten, so wie es zu ihrem Stück passt. Das ist schon sehr ungewöhnlich. Trotzdem ist Demis jemand, der weiß, wohin er will mit einem Stück. Ich erinnere mich an das erste Mal, als wir vor vielen Jahren zusammengearbeitet haben. Da gab es eine Sequenz, die ich tanzen sollte, die mir nicht gefiel. Er sagte mir: Mach es einfach! Und es war gut.

Wie hat die Pandemie den Tanz verändert?
Volpi: Ich will keine Stücke über die Pandemie machen. Das interessiert mich nicht, vielleicht noch nicht. Der Tanz ist auch keine Selbsttherapie. Natürlich wird das Stück immer einen Bezug zur Zeit haben, in der es entstanden ist. Sie beeinflusst die Arbeit und man sieht der Inszenierung an, wann sie entstanden ist. Vielleicht ist es dann später ein Dokument. Aber ich suche Themen, die größer sind. Für das Ballett am Rhein habe ich mehrere Stücke entwickelt, bei denen wir kreativ mit den Begrenzungen umgehen.

Erzählen Sie davon.
Volpi: Bei „A simple piece“ stehen die Tänzer*innen zum Beispiel einzeln und mit einigem Abstand voneinander auf der Bühne, sie bilden zugleich ein Kollektiv. Begegnen sich aber nie und berühren sich nie. Es geht um die Gemeinsamkeit, aber auch um die Differenzierung. Es ist kein Gruppentanz, bei dem alles gleich ist. Jeder Tänzer und jede Tänzerin bewegen sich leicht anders. „Geschlossene Spiele“, nach dem Schauspiel des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar, ist noch gar nicht zur Aufführung gekommen. Es geht um Verantwortung, die man für andere Menschen hat, und die Macht, die manche Menschen in der Gesellschaft bekommen. Ob sie die gebrauchen dürfen, aber auch, was sie mit ihnen macht. Wir haben das Stück extra ausgewählt, weil die Figuren in ein Café kommen, sich jeweils auf ihren Platz setzen und warten. Wir hatten viel Spaß bei den Proben und plötzlich auch vergessen, was alles nicht geht. Die Distanz war quasi von Anfang an in der DNA des Stückes angelegt.

Messmer: Ich finde es toll, dass wir an neuen Konzepten arbeiten. Das ist für mich künstlerisch sehr befriedigend. Ich kenne Demis seit zehn Jahren und bin wegen ihm und seiner Art, an Themen heranzugehen, hierhergekommen. Manche Compagnien gehen gerade zurück zu den Klassikern wie Schwanensee und Dornröschen. Ich glaube nicht, dass das funktionieren wird.

Demis Volpi mit dem Regisseur Ralph Goertz während der Arbeit an einem Dokumentarfilm über “A Simple Piece” | Photo ©Daniel Senzek

Demis Volpi mit dem Regisseur Ralph Goertz während der Arbeit an einem Dokumentarfilm über “A Simple Piece” | Photo ©Daniel Senzek

Im Moment zeigen viele Künstler*innen und Compagnien Livestreams oder Aufzeichnungen. Kann das die Aufführung vor Publikum langfristig ersetzen?
Volpi: Das ist eine Frage, die wir uns ständig stellen. Im Moment hat sich die Bühne auf eine Online-Plattform verschoben. Es ist aber nicht die gleiche Bühne. Ein Stück, das frontal gefilmt ist, hat einen dokumentarischen Wert. Wir können nachvollziehen, wie das Ganze ausgesehen haben kann, man erkennt die Sprache. Aber wie das Stück sich anfühlt, lässt sich so nicht vermitteln. Die Behauptung, ein Streaming könne eine Vorstellung ersetzen, ist nicht nur unehrlich, sie ist auch ein bisschen gefährlich. Ich finde, wir müssen dann darüber nachdenken, Stücke speziell für den Film zu entwickeln. Wir müssen uns fragen, was möchte ich gern zeigen? Was muss mit dem Stück passieren? In welchen Kontext müssen wir es setzen? Der Film ist eine ganz andere Kunstform.

Welche positiven Erfahrungen haben Sie während der Pandemie gemacht, die Sie mit in Zukunft nehmen?
Messmer: Ich bin stolz auf meine Beziehung. Sie hat nicht nur gehalten, wir sind auch zusammen stärker geworden. Seit zehn Jahren bin ich mit meinem Partner zusammen. Und als es darum ging, zu entscheiden, ob ich nach Düsseldorf gehe, hat er mich unterstützt und gesagt: „Du willst doch tanzen. Mach es!“ Mein Vater ist in dieser Zeit krank geworden und musste ins Krankenhaus. Da ich nicht in die USA reisen konnte, ist mein Partner an meiner Stelle hingegangen und hat nach ihm gesehen. In schwierigen Zeiten spüren wir erst, wie viel uns eine Liebe oder Freundschaft bedeutet. Wie viel Halt sie uns gibt.

Volpi: Das Beruhigende in der Pandemie ist, dass wir uns alle nach menschlichen Begegnungen sehnen. Die Technik ist ein Hilfsmittel. Es ist toll, dass wir das haben. Aber wir müssen uns stärker fragen: Was wollen wir damit machen? Wir haben alle verstanden, wie wichtig die Präsenz eines Menschen ist – ob es die Energie der Darsteller*innen ist, die Richtung Publikum strömt, oder die Energie des Publikums, das die Künstler*innen beflügelt, oder ob wir jemanden beim Essen gegenübersitzen oder zusammen spazieren gehen. Die Wärme des anderen Menschen, der Geruch, es gibt so vieles, was im Moment fehlt. Zweidimensionale Bilder können das nicht ersetzen. Auch nicht, wenn alles 3D wäre und auch nicht als Hologramm. Es gibt etwas, das viel tiefer geht. Das, was den Menschen menschlich macht, ist nicht übertragbar. Das kann man nur teilen, wenn man sich physisch begegnet. Das ist eine wichtige Erkenntnis in einer Zeit, in der wir alle uns bemühen, jede Kommunikation über Technik abzuwickeln. Ich erhoffe mir, dass wir einen gesünderen Umgang mit der Technik entwickeln.

Welche choreographische Vision haben Sie für die Compagnie?
Volpi: Ich möchte einen Raum schaffen, in dem jeder Künstler und jede Künstlerin, auch andere Choreograf*innen und Tänzer*innen, Freiheit empfinden. Ein sicherer Ort, in dem vieles entstehen kann. Es geht mir nicht darum, eine bestimmte Handschrift oder eine bestimmte Art zu tanzen durchzusetzen. Jeder soll wissen, dass wir vieles gemeinsam entdecken können. Dass alles möglich ist. Unsere Art zusammenzuarbeiten und auch unsere Inszenierungen sollten uns und unsere Zuschauer*innen motivieren, anderen Menschen gegenüber Empathie zu entwickeln. Das kann der Tanz auf phantastische Weise. Wenn man sich Romeo und Julia ansieht, leidet man mit, man versteht sogar, warum Tybalt Mercutio umbringt. Selbst die dunkle Seite müssen die Menschen in der Kunst nachvollziehen können.

Haben Sie in diesen schwierigen Monaten etwas erreicht, worauf Sie stolz sind?
Volpi: Ja, wir haben vieles geschafft, das ich immer schon erreichen wollte. Wir haben ein Postschwangerschaftsprogramm entwickelt für Tänzerinnen, damit sie körperlich und psychisch wieder in ihren Ballettalltag zurückfinden. Wie haben eine Kooperation mit dem Tanzhaus NRW begonnen und einen Plattform für junge Künstler*innen geschaffen. Ein Stadttheater und die freie Szene arbeiten zusammen: Das ist unerhört. Vielleicht gibt es eine Generation von Choreografen, die sich gar nicht mehr als Abgesandte zweier Welten empfinden. Und gemeinsam Dinge erschaffen. Ich treffe hier in Düsseldorf auf Menschen, die diese Art der Zusammenarbeit wollen und weiterdenken. Darüber freue ich mich. Wir haben ein Team von Ballettmeister*innen, die ganz unterschiedliche Schulen vertreten. Wir haben einen Dramaturgen, der Musiktheater studiert hat, und eine Dramaturgin, die viele Festivals und Choreograf*innen der Welt kennt, die ich nie gesehen habe, weil ich immer in den Stadttheatern unterwegs war. Das sind Perspektiven, die sich ergänzen. Wir haben auch unterschiedliche Überzeugungen und können miteinander streiten. Das färbt vielleicht auch auf die Tänzer und Tänzerinnen ab.

Können Sie sich erklären, warum wir so gern anderen beim Tanzen zuschauen?
Volpi: Man sieht es bei Vögeln, die auf einem Strommast sitzen: Wenn ein Vogel den Kopf dreht, weil er etwas gehört hat, machen das alle anderen Vögel nach. Sie wollen wissen, kommt da jetzt ein Raubtier? Die Bewegung, der Tanz, ist eine alte und vielleicht die kultivierteste Form der nonverbalen Kommunikation. Da steckt etwas Ursprüngliches drin, das wir nicht so gut beschreiben können, das uns anzieht. Ich glaube, die Menschen gehen nicht ins Ballett, um die Liebe zu spüren oder so. Natürlich bewundern sie die Virtuosität der Künstler*innen. Aber vor allem sind wir alle soziale Wesen und suchen die menschliche Begegnung. Wir wollen andere Menschen um sich uns haben, mit denen wir etwas teilen. Das ist ein wichtiger Aspekt des Theaters. Und der Tanz gibt uns die Chance, uns in einen anderen Menschen hineinzuversetzen. Und auf diese Weise Erlebnisse zu haben, die sehr intensiv sind. Das hat nichts mit Eskapismus tun. Es ist etwas zutiefst Menschliches, es macht uns lebendig.

Sollten wir alle mehr tanzen?
Volpi: Jaaa!!!
Messmer: Unbedingt!

Warum?
Messmer: Weil es glücklich macht. Es gibt so viele Möglichkeiten für jeden. Meine Mutter hat vor kurzen angefangen, Tanzstunden zu nehmen. Im Moment gibt es auch so viele Tutorials im Internet. Man kann überall tanzen. In der Küche, im Park. Tanzen ist wie Meditation. Und super auch für Menschen, die den Kopf freibekommen wollen. Sie müssen auf die Musik hören, sich im Raum orientieren, Bewegungsabläufe erinnern – sie können an gar nichts anderes denken.

Volpi: Tanzen verbindet und nimmt Hemmungen. Es ist auch wahnsinnig gesund für den Körper und die Psyche. Es gibt tausende Studien, die das beweisen. Zum Beispiel verlangsamt sich bei Parkinson-Patienten, die Bewegungsabläufe lernen und tanzen, der Verlauf der Krankheit. Ich finde es schade, dass in Deutschland das Wort Party so verpönt ist. Viele verbinden damit offenbar asoziales Verhalten. Als es darum ging, Kontakte einzuschränken, hieß es: Alle Clubs müssen schließen, die jungen Leute sollten nicht so viel Party machen. Das ist nicht ganz gerecht. Ich bin zwar Ballettdirektor, aber auch noch jung. Ich finde, es ist egal, ob ich gern zum Wiener Opernball gehe oder zum Rave. Ich identifiziere mich mehr mit dem einen oder anderen, weil es Teil meines kulturellen Erbes ist. Dieses kulturelle Erbe müssen wir auch pflegen und am Leben erhalten.

ommaso Calcia performing in “A Simple Piece, Episode 1, Private Light” by Demis Volpi | Photo ©Bernhard Weis

ommaso Calcia performing in “A Simple Piece, Episode 1, Private Light” by Demis Volpi | Photo ©Bernhard Weis

*) Aufgrund der aktuellen Situation fanden die Gespräche mit Demis Volpi und Simone Messmer nacheinander per Videokonferenz statt.


Take-away für Innovatoren

1.        Wenn du wachsen willst, muss du bereit sein, dich zu verändern. Sonst langweilst du dich und andere. Das gilt besonders für die Kreativwirtschaft.  

2.        Fokussiere dich darauf, besser zu werden und zugleich als Teil der Gemeinschaft zu etwas Größerem beizutragen. Das ist ein Balanceakt, der Übung erfordert.

3.        Jeder von uns hat gute, weniger gute und schlechte Tage. Gestehe dir Fehler zu und frag dich, wie du auch die schlechten Tage meisterst.

4.        Empathie musst du trainieren wie einen Muskel, damit du sie nicht verlernst. Fange mit aufmerksamem Zuhören an.   

5.        Die Energie, die entsteht, wenn Menschen sich physisch begegnen, ist durch nichts zu ersetzen. Wir müssen sichere Räume dafür schaffen. 

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Demis Volpi

ist seit Beginn der Spielzeit 2020/2021 Ballettdirektor und Chefchoreograf des Ballett am Rhein. Der Deutsch-Argentinier lernte am Instituto Superior de Arte del Teatro Colón in Buenos Aires, an Canada´s National Ballet School in Toronto und an der John Cranko Schule in Stuttgart tanzen. Anschließend war er Mitglied des Corps de Ballet in Stuttgart, bevor er 2013 dort sein erstes Handlungsballett choreografierte und zum Hauschoreographen ernannt wurde. Volpi hat Stücke unter anderem für das American Ballet Theatre, das Ballet de Santiago in Chile, das Ballet Nacional Sodre in Uruguay und das Lettische Nationalballett geschaffen. Er interessiert sich für die großen gesellschaftlichen Themen und will mit den Möglichkeiten des Tanzes Geschichten erzählen.
Foto ©Sigrid Reinichs

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Simone Messmer

ist seit Beginn der Spielzeit 2020/2021 Mitglied im Ballett am Rhein. Sie ist in Minneapolis, Minnesota, geboren und in einem europäischen Haushalt aufgewachsen. Sie studierte Tanz am HARID Conservatory in Boca Raton, Florida. Von 2003 bis 2013 war sie beim renommierten American Ballet Theatre in New York, davon drei Jahre als Solistin. Während dieser Zeit hat sie das erste Mal mit Demis Volpi zusammengearbeitet. Im Laufe ihrer Karriere wurde sie für Choreografien von Alexei Ratmansky, Christopher Wheeldon und Benjamin Millepied besetzt. Bevor sie im August 2020 nach Düsseldorf kam, war sie fünf Jahre lang erste Ballerina San Francisco Ballet und Miami City Ballet. 2019 war sie erste Gastkünstlerin beim Royal New Zealand Ballet.
Foto ©Sigrid Reinichs

Schaut ihnen beim Tanzen zu!

A Simple Piece kann via OperaVision gestreamt werden, ab dem 5. März 2021.

So geht es hinter den Kulissen zu bei “Geschlossene Spiele”.

Das komplette Programm des Ballet am  Rhein ist online einzusehen.
Ballett am Rhein/Deutsche Oper am Rhein
Heinrich-Heine-Allee 16a
40213 Düsseldorf

NFT – ist das Kunst, oder kann das weg?

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Die Künstlerin ist abwesend

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