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Vermeers Mädchen und ihr Versprechen

Vermeers Mädchen und ihr Versprechen

  • Autorin:
    Sepideh Honarbacht

  • Titelmotiv: Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, um 1657-59, Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden

Kunstwerke zu betrachten kann in dunklen Zeiten Trost spenden, so heißt es. Mir jedenfalls bescheren sie regelmäßig kleine Glückmomente. Als mir der Zugang zu meinem Objekt der Begierde seinerzeit Ende November verweigert wurde, löste das eine tiefe Melancholie in mir aus. Wie konnte es mir gelingen, sie zu überwinden?

Ende 2021 zeigte die Dresdener Gemäldegalerie Alte Meister die bislang größte Vermeer-Ausstellung in Deutschland. Das aufwändig restaurierte Werk „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ ist seit 1742 Teil der Sammlung des Museums und war das spektakulärste Ausstellungsstück. Seine Geschichte ging um die Welt. Die Restauration hatte einen Cupido zum Vorschein gebracht, mit gespanntem Bogen in der Hand, der rechte Fuß auf einer am Boden liegenden Maske stehend. Dieses symbolträchtige Detail, das Jahrzehnte nach der Entstehung von jemand anderem als Johannes (Jan) Vermeer übermalt worden war, offenbarte das Sujet des Bildes: die wahre Liebe.

Ich hatte eines der raren Tickets bekommen und freute mich wochenlang darauf, das Mädchen zu sehen. Zwei Tage vor Anreise wurde mein Besuch abgesagt, weil Sachsen wegen der hohen Inzidenz alle kulturellen Einrichtungen schloss und Hotels bereits gebuchte Zimmer stornierten. Ich war erst wütend auf wen auch immer und dann sehr traurig. Das mag für viele unverständlich klingen, für mich fühlte es sich sehr real an. 

Ein zweiter Winter stand bevor, in dem wir uns einschränken mussten, und diesmal wäre es aus meiner Sicht durchaus vermeidbar gewesen. Ich befürchtete, dass noch Schlimmeres drohte, dass Deutschland in einen harten Lockdown gehen, dass ich Familie und Freunde wieder über Monate nicht sehen würde. Ich ahnte, dass ich Menschen, die auf anderen Kontinenten leben und mir wichtig sind, wieder lange Zeit würde entbehren müssen. Die Absage aus Dresden war ein unheilvolles Omen. 

Letztlich war der Winter dann nicht ganz so schrecklich wie gedacht. Die Museen in den anderen Bundesländern blieben geöffnet, und es gab tolle Ausstellungen zu sehen, zum Beispiel in Berlin, Düsseldorf und Frankfurt. Auch andere Kultureinrichtungen und Restaurants blieben für Geimpfte geöffnet. Meine Freundin aus London konnte ich vor Weihnachten in Düsseldorf sehen, nur für die Rückreise auf die britischen Inseln brauchte sie mehrere Anläufe. Das Leben war zwar eingeschränkt, aber wir haben im Familien- und Freundeskreis das Beste daraus gemacht. 

Johannes Vermeer, Mädchen mit dem Perlenohrring, ca. 1665, Mauritshuis, Den Haag, Niederlande

Mitte Februar hellten sich der Himmel und meine Stimmung auf. Sinkende Inzidenzen, erste sonnige Tage, Knospen sprossen an den Bäumen, und die Vögel zwitscherten euphorisch. Ich fühlte mich etwas leichter. Und dachte, wenn ich schon nicht Vermeers Briefleserin in Dresden sehen konnte, besuche ich jetzt das andere sagenumwobene Mädchen, jenes mit dem Perlenohrring, im Mauritshuis in Den Haag, Niederlande. Die „Mona Lisa des Nordens“ geht seit 2014 nicht mehr auf Reisen und ist nur noch in ihrem Zuhause zu sehen. Am 21. Februar war es endlich so weit. In Raum 15 des Museums wartete sie auf mich. Und wie schön sie war! Viel schöner als Mona Lisa und mindestens genauso geheimnisvoll. 

Darüber, wie Jan Vermeer konzeptionell und handwerklich dieses Geheimnis auf 44,5 mal 39 cm Leinwand erzeugt hat, ist schon viel geschrieben worden. Der rätselhafte Blick, leicht geöffnete feuchte Lippen, die leuchtende Haut, die quasi schwebende riesige Perle, die orientalisch anmutende Kleidung eines imaginierten Mädchens aus Delft (dort lebte und arbeitete Vermeer) – die Summe dieser Details wird zu einer Gesamterscheinung, die in jeder Beobachterin etwas anderes auslöst. Bekannt ist soviel: Vermeers Mädchen ist ein Tronie oder Tronje (niederländisch), also eine fiktive Figur. Sie repräsentiert einen bestimmten Typus Frau oder Mädchen. Restauratoren haben mit Infrarot-Untersuchungen belegt, dass Vermeer sie quasi aus dem Handgelenk auf die Leinwand gebracht hat, ohne sie vorzuzeichnen. Sie muss vor seinem geistigen Auge sehr präsent gewesen sein. 

Neugierig auf das, was kommt

Als ich sie anschaute, ausgiebig, aus verschiedenen Perspektiven, sprach mich ihr hybrides Wesen an. Denn sie scheint zwischen zwei Welten zu leben: Sie hat einen hellen Teint wie eine Nordeuropäerin, zugleich verleiht ihr ihre Ausstattung etwas Orientalisches. Die turbanähnliche Kopfbedeckung, zusammen mit dem hochgeschlossenen Gewand, würde heute noch als Hijab durchgehen. Damals waren viele Künstler:innen, Autor:innen und Maler:innen, vom Orient fasziniert, zum Teil ohne den Nahen Osten jemals besucht zu haben, so wie zum Beispiel auch Rembrandt. Kaufleute und Edelfrauen ließen sich in entsprechend detailreicher, prachtvoller „Kostümierung“ portraitieren. Und ich denke, wie schade, dass anstelle der Faszination und der Neugier für das Fremde heute Ängste und Ablehnung vorherrschen.

Neugier passt zum kindlichen Wesen des Mädchens. Es scheint, als würde sie uns anschauen und ermutigen, ihr zu folgen. Wie auch immer das Vergangene gewesen sein mag, sie hat keinen Groll, und sie fürchtet sich nicht. Der nächste Schritt, den sie machen wird, ist nach vorn. Sie empfindet Vorfreude. So wie das Kind in mir. Egal wie anstrengend die vergangenen zwei Jahre waren, das Mädchen versprach mir an diesem Tag, dass alles gut werden würde. 

Zwei Tage nachdem ich aus Den Haag zurückgekehrt bin, am 24. Februar 2022, hat Putin mit seiner Armee Russlands Nachbarland Ukraine überfallen. Und die Zuversicht, die mir das Mädchen mit dem Perlenohrring geschenkt hat, droht zu zerschellen an den Bildern, die in den Medien zu sehen sind. Aber das will ich nicht zulassen. Ich will weiter daran glauben, dass alles wieder gut werden kann. So wie es mir die Delfter Schönheit versprochen hat. 

Anmerkung der Autorin: Angesichts von Putins Überfall auf die Ukraine scheint jedes schöngeistige Thema vergleichsweise unbedeutend. Zugleich bin ich zutiefst überzeugt, dass wir alle unsere kleinen Glücksmomente brauchen, um in Balance zu bleiben. In diesem Sinne ist dieser Artikel als Impuls zu verstehen, diese Momente zu suchen. Wir müssen keine Scham empfinden, wenn wir in diesen Zeiten nach dem Schönen Ausschau halten. Es rüstet uns für Unwägbarkeiten und befähigt uns, im Rahmen unserer jeweiligen Möglichkeiten zu helfen. 

Take-away für Innovatoren

  1.  Melancholie gehört wie Euphorie zum Leben. Lass sie zu, eine Weile. 

  2. Deine Gedanken sind deine Gedanken. Nicht unbedingt die einzige Wahrheit.

  3. Wisse, was dir Freude bereitet. Und inhaliere kleine Glücksmomente, täglich.


Hausbesuche in Dresden und Den Haag

Wer sich die schönen Mädchen von Jan Vermeer aus der Nähe anschauen will, kann das an diesen Orten tun.

Das Mädchen mit dem Perlenohrring und zwei weitere Werke von Vermeer sind im Mauritshuis in Den Haag, Niederlande, zu bewundern, das 2022 sein 200-jähriges Jubiläum feiert. Anlässlich des runden Geburtstags gibt es verschiedene Sonderveranstaltungen vor Ort und Specials auf der Website. Außerdem im Besitz der Sammlung sind unter anderem einige berühmte Werke von Rembrandt, wie „Die Anatomiestunde von Dr. Nicolaes Tulp” und „Saul und David”.

Das aufwändig restaurierte Brieflesende Mädchen am offenen Fenster ist in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden zu sehen. Zu empfehlen ist auch das Weborello „Johannes Vermeer. Vom Innehalten” mit Videos zur Forschung und Restauration des Werks.

Eine Ode an das echte Leben

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