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Eine Ode an das echte Leben

Eine Ode an das echte Leben

  • Autorin:
    Sepideh Honarbacht

  • Fotos: Analog Sea, Jonathan Simons

Jonathan Simons bei der Lektüre eines Buchs.

Der Autor und Verleger Jonathan Simons setzt sich für den Erhalt der analogen Welt ein. Warum? Er argumentiert, dass wir sie brauchen, um Einsamkeit und Introspektion zuzulassen. Dies sei notwendig, um lebenswichtige Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.

Im Frühjahr 2021 entdeckte ich The Analog Sea Review in meiner Berliner Kiezbuchhandlung. Der Titel und das Format zogen mich magisch an. Das Cover zeigte eine einsame Landschaft, vielleicht in Südfrankreich, mit zwei winzigen Figuren am Ufer eines Gewässers. Ein Aquarellgemälde in zarten Ocker-, Petrol- und Salbei-Tönen. Die Einsamkeit, die es ausdrückte, spiegelte wunderbar meinen eigenen emotionalen Zustand wider. „An Offline Journal”, lautete der Untertitel.

Die Ausgabe (Number Three), die ich gekauft habe, ist eher ein kleines Buch als eine Zeitschrift. Man sieht ihr auf den ersten Blick an, dass sich jemand Mühe gegeben und Gedanken gemacht hat, um sie herzustellen. Der Einband hat eine schöne offenporige Oberfläche, riecht gut und fühlt sich angenehm an. Die Zeitschrift enthält Essays und Gedichte sowohl von lebenden als auch von verstorbenen Autoren wie May Sarton, Rainer Maria Rilke, Stefan Zweig und Virginia Woolf. Außerdem sind Interviews mit dem Filmemacher Wim Wenders und dem Psychologen Wolfgang Giegerich anzufinden sowie die Transkription einer Radiodokumentation mit dem Titel „The Idea of North“, die Glenn Gould für den kanadischen Sender CBC produzierte. Die sparsam mit figurativen Malereien illustrierte, sauber gesetzte und stilvoll produzierte Zeitschrift widersetzt sich den aktuellen Trends und scheint aus einer anderen Zeit zu stammen.

Ein paar Tage lang begleitete mich The Analog Sea Review auf Spaziergängen. Ich setzte mich auf Parkbänke und las die einzelnen Stücke, die alle irgendwie miteinander verbunden sind. Und als ich mit Ausgabe Nummer drei fertig war, sehnte ich mich nach mehr. Ich nahm an, dass ich ältere Editionen leicht im Internet beziehen könnte, fand im Web aber nur eine Visitenkarte. Zurück bei meinem Buchhändler, bat ich ihn, die älteren Ausgaben für mich zu bestellen. Ein paar Tage später kamen sie an und waren genauso schön und besonders wie diejenige, die ich zuvor gekauft hatte.

Nun wollte ich mehr über die Macher der Publikation erfahren. Es war unmöglich, per E-Mail Kontakt aufzunehmen, aber jeder Ausgabe lag eine Karte mit zwei Adressen bei, eine in Freiburg im Breisgau und eine in Austin, Texas. Ich wählte die Adresse in Freiburg und schrieb mit Füllfederhalter einen Brief an den Herausgeber und Autor Jonathan Simons mit der Bitte um ein Interview. Seine Redaktionsassistentin antwortete ein paar Wochen später mit einem verbindlichen, individualisierten Brief, gedruckt und im gleichen Design wie The Analog Sea Review, zusammen mit einer Art Newsletter namens The Analog Sea Bulletin.

Die Korrespondenz ging hin und her, und Jonathan Simons reiste schließlich im September nach Berlin, um mich in meinem Büro zu treffen. Das Gespräch, das für eine Stunde angesetzt war, ging schnell über Printpublikationen hinaus, drehte sich um alle wichtigen Fragen des Lebens und dauerte schließlich zweieinhalb Stunden. Ich werde es als eine dieser besonderen Gelegenheiten in Erinnerung behalten, die einem Energie und viel Inspiration geben.

The Analog Sea Review, Number One, Number Two, Number Three.

Die (bisher) drei Ausgaben von The Analog Sea Review. ©Analog Sea

Sepideh Honarbacht: Jonathan, warum bemühst du dich, das Analoge inmitten der ganzen Digitalisierung zu bewahren? Ist das nicht rückschrittlich?

Jonathan Simons: Wie immer kommt meine Antwort mit der Fußnote, dass das Internet und die digitale Technologie zweifellos voller Wunder sind. Sie bieten so viele gute und hilfreiche Dinge, aber ich glaube, wir fragen uns nicht oft genug, wie digital die Gesellschaft sein soll, in der wir leben wollen. Wollen wir, dass die digitale Revolution alles mit sich reißt? Und wenn die Antwort nein lautet, was wollen wir bewahren? Was verliert seine Essenz oder seinen Wert, wenn es durch Bildschirme und das Internet vermittelt wird? Was verliert seine Besonderheit? Ich denke, gedruckte Bücher sind ein großartiges Beispiel für Kultur, die bewahrt werden sollte.

Welche anderen Bereiche unserer Gesellschaft würdest du gern offline halten?
Ich würde mir wünschen, dass viele Aspekte der Kunst und Kultur von dem unberührt blieben, was der französische Philosoph Guy Debord als ein „diffuses Spektakel“ bezeichnete, das Schauspiel, das uns der Plattformkapitalismus mit seinen vielen Markt- und Eigeninteressen präsentiert. Ich beziehe mich oft auf Debord, der 1967 „Die Gesellschaft des Spektakels“ schrieb. Zu diesem Zeitpunkt begannen der Kapitalismus und die globalen Medien gerade erst, die öffentliche Sphäre zu übernehmen. Das Fernsehen drang zwar in das Privatleben der Menschen ein, aber man konnte immer noch zwischen einer echten Begegnung mit einem anderen Menschen und einer Begegnung mit Werbung unterscheiden.

Heute ist diese Grenze fließend. Nehmen wir die Influencer-Kultur. Auf den ersten Blick sind das ganz normale Menschen, die ganz normale Dinge tun, aber das alles dient nur dem Marketing. Das Internet hätte viele verschiedene Dinge sein können, aber seine Tendenz besteht heute darin, alle Bereiche des Lebens in Einkaufszentren zu verwandeln. Daran ist natürlich nicht das Medium selbst schuld, sondern das, was wir aus ihm gemacht haben.

Hast du Angst vor den dunklen Seiten der sozialen Medien?
Was meinst du damit?

Du magst die Aspekte der digitalen Medien nicht, die manipulieren, die ihre Macht einsetzen, um Ziele zu erreichen. Sie sagen dir nicht, dass sie dich beeinflussen wollen, damit du bestimmte Dinge tust, aber sie nutzen ihre technischen Mittel, um dich zu erreichen.
Ich befürchte, dass wir in unserem Leben die Intimität aus den Augen verlieren. Wenn man zum Beispiel ein gedrucktes Buch in der Hand hält, wird es zu einem eigenständigen Objekt, losgelöst vom Markt. Wenn nichts mehr zwischen dir und dem Objekt steht, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit einer ungeteilten Aufmerksamkeit. Du schließt ein physisches Buch nicht an, es ist nicht vernetzt und verfolgt dich nicht. Es kann Werbung enthalten oder auch nicht, aber im Grunde hindert dich nichts daran, eine intime Beziehung zu diesem Buch zu haben. Je mehr unser Leben digitalisiert wird, desto mehr – Unternehmen, Marketing, ständiges Gerede, Groupthink – steht schließlich zwischen uns und unseren unmittelbaren Erfahrungen. Aus diesem Grund sehe ich die Digitalisierung als eine Kraft, die unser Leben ganz allgemein weniger intim, weniger persönlich macht.

Manche Menschen haben eine sehr innige Beziehung zu ihren Handys.
Daran gibt es keinen Zweifel. Es ist eine Massen-Abhängigkeit – wahrscheinlich die am weitesten verbreitete Suchterkrankung, die wir je in der Menschheitsgeschichte hatten. Ich weiß nicht, ob Abhängigkeit Intimität ist.

Wie würdest du dazwischen unterscheiden?
Nun, ich denke, dass es eine psychologische Voraussetzung für Intimität gibt: Innerlichkeit. Wenn ein Mensch hyperstimuliert, fragmentiert, abgelenkt ist – wie es so viele Internetnutzer sind –, wenn dieser Mensch keine Zeit hat, zu reflektieren oder etwas zu empfinden, sich in Zeit, Raum, Gedanken und Gefühlen zu verlieren, dann befindet er sich mehr oder weniger in einem Zustand der Externalisierung.

Der Mangel an Innerlichkeit macht Intimität unmöglich. Der Einzelne kann nur noch eine Beziehung zu anderen Menschen haben, die jene widerspiegelt, die unter den Marktbedingungen entstandenen sind. Sie basiert dann auf Absprachen oder unausgesprochenen Vereinbarungen, Wünschen und Bedürfnissen, Egoismus.

Wir können das die Kommerzialisierung einer Beziehung nennen. Die Berührungspunkte sind allesamt oberflächlich und entbehrlich, wenig geeignet, eine tiefere Beziehung aufzubauen. Meiner Ansicht nach ist Intimität etwas, das sich aus innerer Erfahrung, aus Innerlichkeit speist. Mehr noch: Intimität setzt Innerlichkeit voraus.

Du meinst also, dass wir keine wirkliche Nähe erleben können, wenn wir nicht genug Selbstreflexion zulassen. Und die digitale Welt verhindert, dass wir nach innen schauen.
Mehr oder weniger. Denken wir daran, dass die Introspektion nicht nur Philosophen, Akademikern und Mönchen vorbehalten ist. Und es gibt sicherlich eine lange Geschichte der Medien und des Spektakels. Aber vor dem Smartphone und der ständigen Konnektivität konnte der Mensch das, was ich die kontemplative Lücke nenne, nicht vermeiden, so sehr er oder sie es auch wollte. Hier geht es um kein New-Age-Ritual, das einem sagt, man solle morgens dreißig Minuten mit Poesie und Kräutertee verbringen.

Was ich mit der kontemplativen Lücke meine, sind all die zufälligen Momente, in denen die Ablenkungen und Reize der wunderbaren Welt nicht mehr zur Verfügung stehen und der Mensch ganz natürlich auf sich selbst zurückfällt. Der Mangel an Ablenkung macht es dann schwierig, die grundlegenden existenziellen Fragen zu vermeiden. Warum bin ich hier? Wohin gehe ich? Warum und wann werde ich sterben?

Diese Arten von Fragen sind relevant für den Bauer, den Börsenmakler und den Prominenten – mit anderen Worten: für jeden. Die Art und Weise, wie wir versuchen, uns mit unserer grundlegenden existenziellen Situation zu arrangieren, ist allen Menschen gemein, solange diese kontemplativen Lücken bestehen bleiben. Niemand kann sich der Selbstreflexion gänzlich entziehen. Allerdings, behaupte ich, erfüllt uns die Medienlandschaft, die wir jetzt haben, zum ersten Mal diesen seltsamen Wunsch, unangenehme Gedanken und Gefühle vermeiden zu können.

Aber ist das nicht etwas, das sich die Menschen aussuchen?
Oh, das ist eine gute Frage.

Sie beschließen, nicht über das Problem nachzudenken. Sie wollen nicht über den Tod nachdenken, solange sie es nicht müssen.
Ablenkung ist etwas, das sich fast jeder wünscht. Die unmittelbare Erfahrung der Stille, der Leere löst in uns allen ein gewisses psychisches Unbehagen aus. Dem wollten wir schon immer entkommen. Das ist nichts Neues. Denken wir an die Inszenierung von Tragödien in der griechischen Antike. Sie dauerten zweiundsiebzig Stunden, ein Spektakel ohne Unterbrechung.

Die eigentliche Frage ist, ob heute überhaupt noch zur Wahl steht, in den Abgrund zu starren. Das ist knifflig. Offline zu sein ist immer weniger eine Option, und die Pandemie verschlimmert das noch. In der Zwischenzeit investieren die reichsten und mächtigsten Big-Tech-Unternehmen und ihre Spin-offs Unsummen von Kapital in den Aufbau einer Welt, für die das Metaverse ein dreistes Beispiel ist: Wenn es nach ihnen geht, werden die Menschen so gut wie ihr gesamtes Leben online verbringen.

I. Für Renaissance braucht es eine existenzielle Dosis 

In den Zeiten der aufgezwungenen Isolation war ich dankbar, meine Freunde und Kunden in Webkonferenzen zu sehen. Ich war froh, dass Musik, Theater und Tanz gezeigt wurden und dass es Live-Führungen durch Museen gab. Das war besser, als überhaupt keinen Kontakt mit der Welt außerhalb meiner vier Wände zu haben.
Vielleicht ist genau das das Problem. Sind ein Online-Konzert oder ein Online-Was-auch-immer wertvoll? Mit dieser einfachen Frage konfrontiert, würden die meisten Menschen, mich eingeschlossen, wahrscheinlich antworten: Ja, natürlich. Aber wenn wir etwas tiefer blicken, gibt es noch etwas Wichtigeres zu bedenken. Zu Beginn der Pandemie habe ich gedacht: Diese Situation hat die Fähigkeit, die vielleicht größte Renaissance hervorzubringen, die wir seit dem Florenz des Quattrocento oder dem San Francisco der 1960er Jahre erlebt haben. Sie könnte das Verlangen erwecken nach, sagen wir mal, sinnvoller Arbeit oder authentischer Kunst, nach Träumerei, nach Poesie, nach Liebe, nach gelebter Gemeinschaft. Alles, wovon die ursprüngliche Hippie-Philosophie so begeistert war. All das schien mir möglich. Und so kam ich auf den Begriff „existenzielle Dosis“. Würden unsere Gesellschaften durch die Pandemie eine existenzielle Dosis bekommen, fragte ich mich.

Was meinst du damit?
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die meisten schöpferisch reichen Perioden auf Zeiten großer Verzweiflung, von Krieg oder Leid folgten. Die Beat-Generation kam nach dem Zweiten Weltkrieg, die Hippies als Reaktion auf Vietnam. Und die Renaissance folgte dem Schwarzen Tod. Es gibt eine historische Beziehung zwischen Krisen und diesen Momenten der kulturellen Erneuerung, diesen Ausbrüchen von Zivilisation und kreativer Energie. Sie folgen oft auf Katastrophen. 

Und glaubst du? Werden wir eine Renaissance erleben?
Ich glaube nicht, und ich denke, das liegt an all den digitalen Surrogaten. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Auswirkungen der Pandemie auf viele Menschen in der Welt wirklich schrecklich waren, und wir könnten lange über Beispiele dafür sprechen, wie schwierig es war. Das will ich damit nicht abtun. Aber nein, ich glaube nicht, dass wir die existenzielle Dosis bekommen haben, die es gebraucht hätte.

Der Grund liegt in der endlosen Unterhaltung und den Spektakeln, den pausenlos flackernden Streams und Videos, TikToks und Tweets, den ständigen News Feeds; wovon vieles in mancher Hinsicht ein Geschenk des Himmels war und immer noch ist. Aber wenn wir alles zusammennehmen, können wir sehen, wie die Apps und Bildschirme uns eine noch nie dagewesene Fähigkeit gegeben haben, unsere eigene Zerbrechlichkeit und unsere starke Abhängigkeit voneinander nicht zu erkennen. Beziehungen vertiefen sich, wenn wir uns allein fühlen, langweilen und nach dem anderen sehnen.

Aber was hat uns davon abgehalten, die Beziehungen zu vertiefen? 
Die Surrogate – all die virtuellen Annäherungen – waren klebrig. Das eigentlich Gute des Übels, seine reale und natürliche Macht, uns unserer Freiheiten zu berauben, um uns an einen Ort der Stille zu versetzen, haben wir mit der Art, wie wir digitale Technologien nutzen, außer Kraft gesetzt. Es stellt sich die Frage: Wenn der Komfortkapitalismus uns davor bewahren kann, auf unangenehme Weise mit der Leere in Berührung zu kommen, was bräuchte es dann, damit wir Menschen heute, in unserem Zeitalter der endlosen Medien und der Convenience, diese existenzielle Dosis erfahren? Was müssen die Menschheit oder die Natur liefern, damit eine kritische Masse von Personen, einschließlich unserer Künstler und Politiker, die unglaubliche Schönheit, Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit dieser Situation, die wir Leben nennen, vollständig wahrnimmt?

Haben wir also unsere Chance verpasst, weil wir alle süchtig nach digitalen Medien sind?
Vielleicht ist es zu früh, das zu sagen. Die Pandemie hat sicherlich die Digitalisierung der Gesellschaft vorangetrieben. Und sie hat auch die wichtigen Debatten über den Schutz der Privatsphäre, die Kartellgesetzgebung und Ähnliches ins Abseits gedrängt, zumindest im Moment. Was wir jetzt in der politischen Landschaft im Westen und in den Staaten sehen, sind egoistische Ideologien, die auf absolutem Libertarismus basieren. Das passt in die amerikanische Geschichte.

Aber wir erleben nicht mehr das, was wir in der Great Society nach der Depression gesehen haben, als es eine Welle von zivilem Engagement und Solidarität gab und die Menschen zusammenkamen. Jetzt kämpft jeder gegen jeden. Ich denke, dass die existenzielle Dosis Humanismus hervorbringt, und hier meine ich den Humanismus der Renaissance, nicht den wissenschaftlichen Humanismus. Ich will Intimität mit anderen Menschen, und ich will nicht, dass sie mir als Werbung vorgesetzt wird. Ich will keine Pseudofeier, ich will das Echte.

Was hältst du an der fortschreitenden Digitalisierung für besonders gefährlich?
Wir laufen Gefahr, unsere grundlegenden menschlichen Bedürfnisse zu vernachlässigen – Blickkontakt zu haben, von anderen von Angesicht zu Angesicht gesehen zu werden, gehalten zu werden, umarmt zu werden, zu spüren, dass wir Teil einer lokalen Gemeinschaft sind. Und bei einer so intensiven Nutzung körperloser Medien sind wir vielleicht zu beschäftigt und zu überstimuliert, um dies tatsächlich zu erkennen. Es ist schwer, Lebensmittel online zu ersetzen, aber mit all den geteilten Bildern von dem, was wir essen, kommen wir dem schon sehr nahe.

Wir geben uns mit einer oberflächlichen Erfahrung der Online-Kultur zufrieden, anstatt den Nervenkitzel des Echten oder die Aura zu erleben, die für Walter Benjamin das „Original“ ausmachte. Wir leben in gewisser Weise ein mittelmäßiges Leben, und wir hungern nach dem, was wir wirklich brauchen. Ich hoffe nur, dass wir Bücher, Konzerte und Wochenmärkte behalten können. Zumindest diese Dinge scheinen nicht zu verschwinden, zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt.

Können wir das analoge und das digitale Leben im Gleichgewicht halten?
Als Erstes müssen wir erkennen, dass es keine Heuchelei ist, die Teile unseres Lebens zu kritisieren, auf die wir uns verlassen oder mit denen wir tief verwoben sind. Wir müssen bereit sein, dieses sehr, sehr mächtige und einflussreiche Smartphone in unserer Tasche kritisch zu sehen, ganz zu schweigen von all den anderen Schnittstellen, die wir bald haben werden, um ständig mit dem Internet verbunden zu sein. Dann sollten wir uns fragen: Wo sehen wir das Zentrum unserer Welt? Sind wir bereits in das Metaverse eingezogen? Leben wir jetzt online? Sprechen wir von einer Regierung oder einer Kultur, als ob die verschiedenen Kulturen und Politiken zu einer globalen Monokultur verschmolzen wären?

Um das analoge Leben zu pflegen und es als Gegenwicht zu nutzen, um den grundlegenden Sinn für menschliche Vernunft zu bewahren, halte ich es für unerlässlich, genauso viel Zeit offline in der realen Welt zu verbringen wie online. Ob bei Abendessen, Lesezirkeln, in Salons, bei kleinen Festivals oder anderen Offline-Zusammenkünften – wir müssen Gelegenheiten schaffen, damit die Menschen auf intensivere Weise beieinander sein können. Wir müssen unsere Telefone nicht gleich in den Fluss werfen, aber wir brauchen Zeiten, in denen wir uns darauf einigen, sie für ein paar Stunden auszuschalten, wirklich zusammen zu sein und zu sehen, was dann passiert.

Ich bin sicher, dass einige Leute Fotos machen und sie zeitgleich veröffentlichen müssten.
Unser primäres Erlebnis ist aus meiner Sicht immer wichtiger, spannender und köstlicher als die sekundäre Darstellung, die wir dann online in unser Netzwerk einspeisen. Es erstaunt mich immer wieder, dass für manche Menschen, die an den schönsten Orten in der Natur oder vor einem großartigen Gemälde stehen – ich denke an meinen Besuch in Wien vor der Pandemie, als ich vor Klimts „Frau in Gold“ stand –, das Wichtigste zu sein scheint, ein zweidimensionales Bild einzufangen, das beweist, dass sie dort waren.

Die Notwendigkeit, in unseren Netzwerken soziales Kapital zu gewinnen, hat uns dazu verleitet, die öffentliche Zurschaustellung für wichtiger zu halten als die private Erfahrung. Das heißt nicht, dass die Darstellung nicht wichtig ist, aber es ist eine Frage der Prioritäten und der Art und Weise, wie die Technologie unsere Gedanken und Wünsche beeinflusst hat. Die primäre Erfahrung ist für die Zukunft der Kunst von größter Bedeutung.

Sicher, wir könnten darüber reden, was Kunst ist und über Duchamps Definition und all das, aber beeindruckt zu sein, Ehrfurcht zu fühlen, Staunen zu erleben, eine wirklich intime Verbindung mit einem Kunstwerk zu spüren, Live-Musik so zu erleben, dass sich die Haare im Nacken aufstellen – das sind die Dinge, die uns am Leben erhalten, nicht NFTs und Medienhypes.

II. Massenartikel sind nichts Besonderes

Manchmal kann die sekundäre Erfahrung zur primären Erfahrung führen, meinst du nicht auch? Vielleicht könnte The Analog Sea Review eine größere Leserschaft gewinnen, wenn du beispielsweise Auszüge aus den Ausgaben und mehr Hintergrundinformationen online veröffentlichen würdest. Menschen, die deine Arbeit schätzen, würden sich dann die physische Ausgabe kaufen.
Diese Frage wird uns oft in irgendeiner Form gestellt. Ich stelle jetzt mal eine provokante Gegenfrage: Setzt du voraus, dass eine wachsende Leserschaft immer unser Ziel und das Wichtigste für uns sein muss?

Nein, eigentlich ist meine Perspektive die des Lesers. Vielleicht gibt es mehr Leute, die sich freuen würden, eure Publikationen zu entdecken. Das ist gar nicht so einfach.
Ja, das ist so gewollt.

Okay.
Es gibt inzwischen etwa zweihundert Buchhandlungen in der Welt, die unsere Titel verkaufen, und wir tun unser Bestes, um den Verkauf dieser Bücher offline zu halten. Die Erfahrung, etwas zu wollen und es nicht immer gleich zu haben, ist für die menschliche Entwicklung sehr wichtig. Sie führt zu Sehnsucht und, sobald man den Gegenstand erworben hat, zu Wertschätzung. Meiner Meinung nach ist es eine sehr gefährliche Situation für die Menschheit, wenn wir in der Lage sind, auf jede Frage in einer Sekunde, nachdem wir sie gestellt haben, eine Antwort zu haben, wenn wir immer genau wissen, wo wir sind und wohin wir gehen, wenn wir uns nie verirren, wenn wir jede Ware bekommen, wann immer wir sie brauchen.

Bei unseren Büchern geht es nicht darum, dass wir versuchen, ein Spiel daraus zu machen. Es ist nur so, dass das Internet und die zahllosen Milliarden an Werbegeldern, die hinter den gigantischen Webshops stehen, die Kunst übernehmen und kolonisieren. Und eine interessante Frage, auf der unser Verlag Analog Sea aufbaut, lautet: Kann etwas Wertvolles ausschließlich offline existieren?

Natürlich kann es das.
Ganz offenbar ist das auch meine Antwort. Aber wir hören immer wieder: Wie könnt ihr als Verlag existieren, wenn ihr nicht online seid? Wie könnt ihr existieren, wenn ihr nicht in den sozialen Medien präsent seid? Wie kann jemand von euch erfahren? Wie soll man euch finden? Heute ist es so, als habe es den Gedanken oder das Gefühl, wenn sie nicht gefilmt oder getwittert wurden, nie gegeben. Die Plattformen werden mehr und mehr zu Hütern der menschlichen Erfahrung. Offline-Räume und Offline-Objekte zu bewahren ist jetzt ein revolutionärer Akt. In den kommenden Jahren werden wir ein breiteres Bewusstsein für Aktivismus in dieser Richtung erleben. Auch wenn das Internet die größte Massen-Abhängigkeit in der Geschichte der Menschheit ist, wird es immer eine lebhafte Randgruppe geben, die erkennt, dass ein Foto eines Apfels kein Apfel ist, dass ein Treffen ohne Blickkontakt kein Treffen ist und dass Liebe ohne Berührung keine Liebe ist.

Einige Leute finden euch, und diese Leute berichten anderen Leuten davon. Es gibt Mundpropaganda, oder jemand verschenkt Ausgaben. Aber natürlich sind eure Publikationen nicht für jedermann leicht zugänglich.
Dies führt zu der ganzen Diskussion über die Demokratisierung der Künste. Sollte alles für jeden verfügbar sein? Sollte alles kostenlos sein? Wenn du diese Fragen bejahst, dann ist das Internet natürlich perfekt dafür geeignet. Man kann Dinge endlos vervielfältigen und kommerzialisieren.

Nun, ich denke, Kunst und Kultur dienen der Bildung. Daher ja, jeder sollte Zugang haben. Vielleicht gäbe es weniger Kriege und Hasskriminalität, wenn mehr Menschen Dokumentarfilme anschauen, Gemälde betrachten oder Theaterstücke besuchen würden. Informationen und Bildung verfügbar zu machen – dafür ist das Internet gut.
Es ist ein großer Unterschied, ob man Bildung und Kultur unter sozioökonomischen Gesichtspunkten zugänglich macht oder ob man alles der Massenproduktion und Kommerzialisierung unterwirft. Offene und gerechte Gesellschaften sind vielleicht das entscheidende Merkmal einer liberalen Demokratie, aber alles zu digitalisieren, alles sichtbar und ständig und sofort verfügbar zu machen ist nicht der Weg zu solchen Gesellschaften.

Tatsache ist, dass das Internet uns verwöhnt. Wir können uns von Amazon alles, was wir wollen, innerhalb von vierundzwanzig Stunden portofrei schicken lassen. In Manhattan dauert es nur noch dreißig Minuten. Mithilfe von Technologien können wir überall jederzeit auf alles zugreifen. Wie werden die Dinge also zu etwas Besonderem? Wie wird dein neuer Liebhaber zu jemand Besonderem, wenn du auf Tinder jeden Tag Hunderte von SMS von all den anderen möglichen Partnern erhältst? Wie wird das Buch zu etwas Besonderem, wenn es auf einem E-Reader liegt, der Hunderte von anderen Büchern enthält? Sobald du zu einem Teil des Romans kommst, in dem wenig passiert, oder wenn der Text anfängt, dich herauszufordern oder etwas langatmig zu werden, kannst du einfach ein anderes Buch hochladen.

Manche finden das ganz praktisch. 
Überfluss ist das wesentliche Kennzeichen dessen, was wir mit der Kommerzialisierung von Büchern und Kultur meinen, und das ist es, wogegen wir bei Analog Sea kämpfen. Wenn Menschen unsere Bücher finden, haben sie oft das Gefühl von etwas Besonderem, auch weil sie vielleicht darauf warten oder danach suchen mussten. Und ich denke, das ist eine gesunde Erfahrung für uns alle – dieses eine Restaurant in einer Seitenstraße zu finden, das niemand kennt und das nicht in den Reiseführern steht.

III. Ethische Fragen zu KI und Kunst bleiben unbeantwortet

Was uns Menschen von der KI unterscheidet, ist unsere Fähigkeit zu träumen. Meinst du, dass wir diese Fähigkeit verlieren werden, je mehr wir online und vernetzt sind?
Das ist eine wirklich wunderbare Frage. Es scheint, als müssten wir Carl Jung in den Raum holen. Zunächst möchte ich dich bitten zu erklären, was du mit Träumen meinst, denn wir verwenden dieses Wort in unterschiedlichen Zusammenhängen.

Träumen bedeutet für mich, dass ich mir Szenarien vorstelle, in denen ich selbst eine Rolle spiele oder nicht. Ich fantasiere über Dinge, die passieren könnten, tue Dinge, die ich im wirklichen Leben nicht tun kann, besuche Orte, die ich nie zuvor gesehen habe.
Nun, das Problem ist, dass die vielen digitalen Medien mit ihren vielen Bildern und Worten alle Lücken ausfüllen. Das Träumen geschieht ganz natürlich, zusammen mit der Erfahrung einer Sehnsucht nach Dingen, die wir nicht kennen. Es ist erstaunlich, dass wir heute Fotos von mehr oder weniger jedem Ort sehen, an den wir uns jemals begeben könnten – bevor wir dort überhaupt waren.

Das Ziel von Google und anderen Plattformen ist es, uns zu geben, was wir wollen, bevor wir überhaupt wissen, dass wir es wollen. Wo bleibt da das Träumen? Es ist nur ein absoluter Konsumismus, der uns Fragen beantwortet, bevor wir überhaupt wissen, dass wir sie haben. Der Komfortkapitalismus verkauft uns die utopische Vorstellung, dass Technologie das beseitigen kann, was im Silicon Valley als „Friction“, Störung, bezeichnet wird.

Aber Störungen sind auch ein Bestandteil menschlicher Prozesse, des menschlichen Lernens sowie der Sehnsucht und des Schmerzes, der uns dazu bringt, Fähigkeiten wie Empathie und Mitgefühl zu entwickeln. Technologieunternehmen beschäftigen Heerscharen von gut bezahlten Psychologen, die dabei helfen, die Algorithmen so zu trainieren, dass sie unsere psychologischen Zustände erkennen und darauf reagieren.

Zahlreiche Studien belegen, dass Menschen sich tatsächlich gerne mit einer KI anfreunden, und es gibt eine Fülle von Start-ups, die virtuelle Betreuer für unsere älteren Mitbürger entwickeln. Der Film „Her“ ist nicht so weit hergeholt, wie man meinen könnte. Wir sollten uns nicht vormachen, dass wir Menschen gegen den Reiz immun seien, virtuelle Beziehungen zu KI-Maschinen einzugehen.

Wie können wir also unsere Träume lebendig halten?
Wir haben vorhin von Innerlichkeit gesprochen. Auch das ist eine Voraussetzung für das Träumen. Vom Standpunkt der Externalisierung aus gesehen ist das, was du zu wollen glaubst, genau das, was alle anderen auch wollen, und wer du zu sein glaubst, ist lediglich die Person, die dir andere widerspiegeln. Der Traum eines Individuums ist der Prozess der Individuation – damit zurück zu Jung.

Hier meldet sich das Unterbewusstsein zu Wort und du hast das Gefühl, dass sich tief in dir etwas befindet, das durch dich hindurch wirkt. Wenn dieser Prozess lebendig ist, spürt der Mensch einen Sinn, wenn nicht, hat er keinen. Träumen ist also unglaublich wichtig. Ich denke, man sollte fairerweise sagen, dass Computer bereits jetzt für uns träumen. Dient die KI dem menschlichen Handeln, oder ersetzt sie es? Wer kontrolliert hier wen? Entwickelt die KI ihr eigenes menschliches Handeln und unterjocht uns? Ich denke, das tut sie.

Ich glaube, dass Computer niemals die Kreativität des menschlichen Geistes imitieren können. Sie können lernen, Dinge zu tun, die wir ihnen beibringen, aber sie können nicht auf dieselbe Weise kreativ sein wie Menschen.
Du nimmst scheinbar eine absolute Perspektive ein. Ich stimme dir zu, aber ich sehe das aus einem anderen Blickwinkel. Können diese Deep-Learning-Algorithmen Kunst, Journalismus, Romane und Songtexte erstellen? Wir stehen doch wirklich erst am Anfang von all dem. Irgendetwas sagt mir, dass wir durchaus bereit sind, uns täuschen zu lassen, und dass von einer konsumorientierten Perspektive aus betrachtet das Endprodukt interessanter sein kann als der sich dahinter verbergende menschliche Prozess.

Wenn wir sagen, dass der Sinn der Kunst das fertige Werk ist, das an der Wand hängt, dann haben wir den humanistischen Aspekt des künstlerischen Prozesses abgeschafft. Kunst ist dann nur noch eine Ware, ein fragmentiertes Bild, das in uns ebenso fragmentierte Fantasien auslösen kann oder auch nicht. Es geht nicht darum, wie sich die Medien verändern. Wir erleben einen grundlegenden Wandel in der Art, wie Menschen mit Innerlichkeit umgehen – mit Gedanken, Gefühlen, Träumen – und das sollte uns, die wir Kunst und Ideen lieben, beunruhigen.

Natürlich kann KI etwas erschaffen. Sie kann vielleicht Bilder und Worte zu etwas Neuem verbinden, aber ich glaube nicht, dass das mit der Kreativität eines Künstlers wie Max Ernst oder eines Dichters wie Rilke vergleichbar ist.
Es tut mir leid, dir sagen zu müssen, dass so etwas bereits geschieht. Ein erschütterndes Beispiel, über das viel berichtet wurde, ist der Text, den GPT-3, eine der fortschrittlichsten Deep-Learning-Sprachsoftwares, geschrieben hat, als sie den Auftrag erhielt, ihr eigenes Ende zu Kafkas „Die Verwandlung“ zu erzeugen. Der erstellte Text war erschreckend überzeugend.

Das Zeitalter der Mensch-Maschine-Schachturniere und die Frage, ob der Algorithmus den Menschen in seinem eigenen Spiel schlagen kann, gehören der Vergangenheit an. Kunstwerke, Journalismus, Musik, Literatur – all das wird heute geschaffen, verbreitet und auf dem einst menschlichen Marktplatz der Kunst und Ideen verkauft. Die Leute scheinen nicht zu begreifen, dass wir an der Schwelle zu einer echten Krise stehen, wenn menschliches Handeln und der Wert menschlicher Arbeit infrage gestellt werden. Also ja, die Maschinen sind tatsächlich an einem Punkt angelangt, an dem sie Werke produzieren, die nicht mehr von dem zu unterscheiden sind, was wir einst als menschliche Fertigkeiten und Meisterwerke gefeiert haben.

Niemals.
Ich glaube, vor ein paar Jahren hätte ich noch dasselbe gesagt, aber ich wurde eines Besseren belehrt, und inzwischen denke ich, die Fähigkeit der KI, aufgrund der vielen Daten, die ihr zur Verfügung stehen, menschliche Kreativität und Emotionalität nachzuahmen, scheint zu bedeuten, sie kann in gewisser Weise kreativ sein. Wir stehen also vor einem ethischen Dilemma, das uns offenbar nicht wirklich kümmert. Ich meine, man weiß ja nie, in welche Richtung sich die Menschheit entwickeln kann, oder?

Wir wissen nicht, welche Bewegungen und Gegenreaktionen es geben wird, auch wenn uns der nicht enden wollende Kulturkampf von allem anderen ablenken könnte. Ich möchte gern einen Schritt voraus sein und einen weltweiten Zusammenschluss von Verlegern gründen, die sich vertraglich verpflichten, keine von KI geschriebenen Texte zu veröffentlichen – und zwar bevor es notwendig ist, bevor wir es brauchen. Dabei bin ich mir nicht einmal sicher, ob sich genug meiner Verleger- und Herausgeber-Kollegen dafür interessieren würden.

Leider glaube ich, dass es die Menschen nur dann interessiert, wenn sie selbst von etwas betroffen sind. Es ist ihnen nicht egal, wenn eine KI ihren Job übernehmen kann. Den meisten ist es aber wahrscheinlich egal, ob etwas, das sie anschauen oder lesen, von KI produziert wird. Eigentlich interessiere ich mich für Kunst, weil ich verstehen möchte, was die Künstlerin oder der Künstler unter bestimmten Umständen gedacht hat und was die Botschaft ist. Da KI die Gesellschaft nicht auf diese Weise reflektiert, interessiert mich KI-Kunst nicht.
Das liegt daran, dass du dich für eine Kunst interessierst, die mehr ist als Ware – das höre ich bei dir heraus –, aber ich weiß nicht, ob du und ich mehr als einen ziemlich kleinen Prozentsatz der Weltbevölkerung repräsentieren. Die Kommerzialisierung des Bildes und der Kunst bedeutet, dass sie zu Unterhaltung werden; sie werden einfach zu mehr Zeug. Und das Organisationsprinzip unserer Zeit besteht darin, so viele Bereiche unseres Lebens wie möglich von unseren Smartphones kontrollieren zu lassen.

Für einige ist es eine Ware, für andere auch ein Status.
Große Fragen.

Hast du einen Lieblingsort zum Träumen?
Ein gutes Café.

Warum?
Es ist ein merkwürdiges, aber interessantes Beispiel für eine gewisse Balance zwischen Einsamkeit und Gesellschaft. Es sind Menschen da, und das Beobachten von Menschen ist für einen Schriftsteller wunderbar inspirierend und regt zum Nachdenken an. Und doch bleibt man mit seinen Gedanken allein. Ich glaube, am glücklichsten war ich in meinem Leben immer dann, wenn ich diese Café-Momente mit meinem Tagebuch und einem Buch, das ich gerade las, verbracht und einige Augenblicke der Einsamkeit genossen habe. Also ja, ich schätze die Café-Kultur. Was sind deine Lieblingsorte?

Ich beobachte gern Wasser. Ich liebe den Rhein, die Seen rund um Berlin. Und ich mag das Meer. Ich könnte stundenlang auf das Wasser schauen. Ich weiß nicht, warum. Ich fühle mich auch in der Einsamkeit wohl, nehme ich an. Aber ich habe beobachtet, dass die Einsamkeit etwas zu sein scheint, wovor manche Menschen Angst haben. Können wir sie ermutigen, diese Momente zu suchen?
Nun, zunächst einmal gibt es für mich unterschiedliche Arten von Einsamkeit. Es gibt die körperliche Einsamkeit. Wir wissen, was das ist, aber dann denke ich auch an intellektuelle Einsamkeit, die wir als kritisches Denken definieren könnten. Und dann denke ich an emotionale Einsamkeit im Sinne einer Unabhängigkeit, die notwendig ist, um etwas zu fühlen und nicht sofort zu versuchen, das Gefühl zu ersticken, indem man sich den Medien zuwendet, um sich abzulenken oder soziale Bestätigung zu finden.

Ich denke, dass eine der gravierendsten Nebenwirkungen des Internets die Auslöschung der Einsamkeit ist: Einsamkeit, im Gleichgewicht mit sozialen Kontakten, ist nicht nur gesund, sondern auch notwendig. Sie ist meiner Meinung nach auch der einzige Ort, an dem Empathie und Mitgefühl entstehen. Man muss sich aus der Menge zurückziehen, damit man tatsächlich etwas Eigenes empfinden kann. Wir müssen ein gewisses Maß an grundlegendem menschlichem Leid, wie Einsamkeit, Sehnsucht, Verlorenheit und Verwirrung, ertragen, um zu wachsen.

Entsteht große Kunst nur durch großes Leid?
Ich würde sagen, dass große Kunst nicht aus dessen Abwesenheit entstehen kann. Sie kann nicht aus der Auslöschung des Leidens entstehen. Aber natürlich muss man definieren, was Kunst ist. Duchamp behauptete, wenn jemand sagt, etwas sei Kunst, dann ist es Kunst. Ich stimme dem nicht zu, aber ich denke, das Schöne an der Kunst ist, dass jeder sie für sich selbst definieren kann. Meine persönliche Definition ist etwas spezieller, dazu gehört, dass der Komfortkapitalismus keine förderlichen Bedingungen für die Produktion von Kunst bietet.

Aus meiner Sicht kann die Maschine selbst keine Kunst erschaffen. Sie mag etwas produzieren, das wie Kunst aussieht, sich wie Kunst anfühlt, wir können davon überzeugt sein, dass wir es kaufen sollten – aber für mich ist das trotzdem keine Kunst. Manche sagen vielleicht, dass alles, was für den Empfänger wie Kunst aussieht oder sich so anfühlt, Kunst ist. 

Du siehst das anders …
Ein Kunstwerk ist dann entstanden, wenn ein Künstler sowohl die Einsicht als auch die Fähigkeit besitzt, einen Gedanken, ein Gefühl oder einen existenziellen Prozess in ein Medium zu übertragen, das es dem Publikum oder Rezipienten dieses Werkes ermöglicht, die ursprüngliche Erfahrung des Künstlers zu entschlüsseln und somit selbst zu erleben. Da Worte nur einen relativ kleinen Teil der menschlichen Erfahrung repräsentieren, ist die Fähigkeit von Künstler und Publikum, durch Kunstwerke zu kommunizieren, etwas, das unsere Spezies so wunderbar macht. Wenn ein Kunstwerk nur zufällig eine Reaktion auslöst, kann es aus anderen Gründen ein Kunstwerk sein, aber nicht, weil es zufällig diese Erfahrung auslöst – deshalb bin ich mit Duchamp und seinen Readymades nicht einverstanden. Ich glaube nicht, dass sie Kunst sind.

Man könnte sagen, sie sind eine Art Provokation.
Ja, aber ich glaube nicht, dass bloße Provokation Kunst ist. Wir brauchen dringend Orte und Dinge und Erfahrungen außerhalb des Marktes, und dazu zähle ich auch den Markt der Ideen. Wenn wir also einen Film als Propagandafilm bezeichnen, können wir ihn nicht gleichzeitig als Kunst bezeichnen. Man kann erkennen, ob eine Arbeit nur gemacht wurde, um eine Idee zu verkaufen: Wenn es so ist, ist es meiner Meinung nach ausgeschlossen, dass es sich um ein Kunstwerk handelt.

Das ist eine interessante Perspektive.
Das heißt nicht, dass das Produkt nicht wertvoll ist. Wir sollten es nur nicht Kunst nennen.

Ist das nicht ein bisschen elitär?
Ich denke nicht, dass ich elitär bin, denn ich sage, dass jeder für sich selbst entscheiden kann, und ich ermutige alle, dies zu tun. Ich äußere nur meine eigenen Gedanken zu Fragen, die für jeden von uns relevant sein sollten. Während wissenschaftliche Methoden uns helfen können, einige sehr wesentliche allgemeingültige Wahrheiten festzuhalten, können diese Fragen der Kunst und Philosophie nicht von außen definiert werden.

Unsere Beziehung zu Kunst und Literatur, zumindest eine lebendige Beziehung, ist an unsere eigene Beziehung zu unserem inneren Wesenskern gebunden. Und es gibt nichts Spannenderes, als Teil einer Gruppe individueller Denker zu sein, die ihre Ideen und Meinungen darüber austauschen, was Kunst ist, was Freiheit ist und was es für jeden von uns bedeutet, ein sinnvolles Leben zu führen.

Kannst du dir eine hilfreiche App vorstellen, die du gerne in die analoge Welt übertragen würdest?
Eine weitere sehr interessante Frage, die ich allerdings nicht so einfach beantworten kann, da ich kein Smartphone mehr besitze. Ich war übrigens Eigentümer des ersten iPhones. Ich war einer dieser dummen, dummen Menschen, die in einer langen Schlange vor dem Apple Store in Portland, Oregon, gewartet haben, und als meine Nummer endlich aufgerufen wurde, haben alle Apple-Mitarbeiter geklatscht und mir gratuliert. Und dann gaben sie mir mein Telefon, und ich hatte es vor allen anderen um mich herum, und ich lief durch die Straßen von Portland wie ein entrückter Zombie.

Übrigens war ich ein echter Technologie-Jünger. Ich habe mir das Programmieren von Websites und Datenbanken selbst beigebracht, und ich habe mich immer sehr wohl mit Technik gefühlt. Aber nach ein paar Jahren hatte ich das Gefühl, dass mein iPhone die Art und Weise veränderte, wie ich dachte. Und das gefiel mir überhaupt nicht. Also beschloss ich, mich davon zu befreien. Ich habe inzwischen mehr als genug Technologie in meinem Leben, aber ich bin auch in der Lage, allein und nicht ständig an sie gebunden zu sein. Mehr als zehn Jahre danach ist das Einzige, was ich über Apps weiß, das, was mir andere Leute erzählen. Kannst du mir ein Beispiel nennen?

Tatsächlich habe ich vor einiger Zeit eine Ausstellungsführung mit dem Kunsthistoriker Bazon Brock auf dem Tempelhofer Feld gemacht. Er konnte auf sehr unterhaltsame Weise Verbindungen zwischen den Kunstwerken, der Geschichte, der Philosophie und der Wirtschaft herstellen. Ich kenne keine Kunst-App, die das kann. Es wäre toll, wenn die Google Arts & Culture App mich spontan mit einer realen Person verbinden könnte, die mir solche Live-Führungen durch jede Ausstellung gibt.
Aus meiner Sicht ist jede App, die den lokalen Bezug, die ungestörte Intimität mit anderen fördert – jede App, die uns sanft aus dem Internet herausholt – eine gute Idee. Doch einer der Hauptaspekte des digitalen Utopismus ist die Vorstellung, dass die durch die Technik verursachten Probleme nur mit noch mehr Technik gelöst werden können. Ich möchte die zahllosen Apps würdigen, die uns dabei helfen sollen, unsere Bildschirmzeit zu reduzieren und ein glücklicheres, kontemplativeres Leben zu führen.

Aber der Sinn der Freizeit, zusammen mit der Literatur und den Künsten, besteht darin, dass wir Phasen in unserem Leben haben, in denen wir uns völlig ausklinken, in denen wir aus unseren Optimierungsprogrammen aussteigen, aufhören, aktive Konsumenten zu sein, in denen wir uns die wahre Freiheit gönnen, uns Gedanken, Gefühlen, Ideen und unmittelbaren Erfahrungen hinzugeben, ohne in die Fallstricke der Identität, der sozialen Bestätigung oder der Leistung zu geraten.

Technik war immer dazu gedacht, uns von der Arbeit zu befreien. Aber wenn der Druck des Marktes unsere Freizeit kolonisiert, spielt es keine große Rolle, ob es unser eigener Ekel ist, unsere eigene Reizüberflutung, die uns warnt, oder eine weitere klingelnde App – wir müssen uns einfach zurückziehen, damit unser Geist und unser Körper Raum haben, sich zu strecken, und die Stunden und Szenen unseres Lebens genießen, während es an uns vorüberzieht.

The Analog Sea (An Offline Journal, Number One, Number Two), Analog Sea (Blank Journal), Songs of Waking (Poems)

Plädoyer für die Offlinekultur

Analog Sea ist ein amerikanischer Non-Profit-Verlag. Er wurde 2018 in Austin, Texas, und Freiburg, Deutschland, vom Schriftsteller Jonathan Simons gegründet, dessen Überzeugung es ist, dass er und seine Mitherausgeber „sich auf einer Such- und Rettungsmission für eine besondere Art von Individuum befinden ..., das tief in der realen Welt verwurzelt ist, unabhängig vom Internet und seiner unaufhörlichen Berieselung mit visuellen Reizen und Lärm“.

Die (bisher) drei Ausgaben der Literaturzeitschrift The Analog Sea Review sind in rund 200 physischen Buchhandlungen in Nordamerika und Europa erhältlich. Die zweite Ausgabe der Zeitschrift wurde mit einer Silbermedaille bei den Independent Publisher Book Awards ausgezeichnet und war Finalist bei den Next Generation Indie Book Awards. Ausgabe Nummer vier wird Anfang 2022 erscheinen.

Wenn Sie ein kostenloses Abonnement für das Analog Sea Bulletin wünschen, einschließlich einer Liste der Buchhandlungen, die The Analog Sea Review verkaufen, schreiben Sie bitte an:

Analog Sea
Basler Straße 115
79115 Freiburg
Deutschland
Oder:
Analog Sea
PO Box 11670
Austin, Texas 78711
United States

Ritter des gedruckten Wortes

Jonathan Simons ist fest im analogen Leben verwurzelt. Seit er vor zwölf Jahren nach Freiburg gezogen ist, besitzt er kein Smartphone mehr. Er hat keine Social-Media-Accounts. Wer mit ihm in Kontakt treten will, muss ihm einen Brief schreiben und bekommt einen zurück, vielleicht sogar mit einem Füllfederhalter auf handgeschöpftem Papier. Geboren in Houston, Texas, besuchte er Ende der 1970er Jahre ein Internat in Neuengland, wo ein Englischlehrer, ein Dichter, ihm erstmals die Liebe zur Literatur einflößte. Jonathan zieht die entschleunigte Universitätsstadt Freiburg dem Trubel der Großstädte vor. Er hält sich regelmäßig in Berlin auf, wo er als Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Zentrum Mensch und Maschine, tätig ist.

Take-away für analoge Innovatoren

  1. Habe keine Angst vor unangenehmen Gefühlen.

  2. Kultiviere kontemplative Lücken, um nach innen zu schauen.

  3. Suche die Einsamkeit, um empathisch zu bleiben.

  4. Pflege echte Verbindungen mit echten Menschen.

  5. Erlaube dir, Systeme zu kritisieren, von denen du ein Teil bist.

  6. Finde ein Gleichgewicht zwischen digitalem und analogem Leben.

  7. Trenne dich regelmäßig von der Technik.

  8. Bleibe aufmerksam und neugierig, um das Besondere zu entdecken.

  9. Denke daran: Nicht alles muss jederzeit für jeden zugänglich sein.

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